»Vielleicht hat er sich erboten, seine Mutter selbst zu fahren. Während der Fahrt gerieten sie erneut in Streit und kamen von der Straße ab«, mutmaßte Erik.
»Sicher! Nur leider ist das alles viel zu hypothetisch. Sie beide müssen unbedingt Sven Koch finden. Nur er selbst kann uns darauf die Antwort geben. Frau Deister bleibt heute im Büro für den Fall, dass jemand sich hier meldet.«
Damit waren die Aufgaben verteilt.
Erleichtert verließ Anke hinter Erik und Claudia das Büro. Sie freute sich, endlich wieder in ihrem eigenen Zimmer allein sein zu können. Von dort aus rief sie Theo Barthels an und teilte ihm mit, welche Aufgaben Forseti für ihn und sein Team vorgesehen hatte. Theo war verständlicherweise nicht gerade glücklich darüber, den ganzen Sonntag arbeiten zu müssen.
Entspannt lehnte sie sich in ihrem Bürostuhl zurück. Morgen hatte sie einen weiteren Termin bei ihrer Hebamme. Sie wollten ihre Schwangerschaftsgymnastik und Bewegungstherapie durchsprechen. Bei dem Gedanken an die quirlige, kleine Susi Holzer musste Anke lächeln. Ihr Gynäkologe hatte ihr Susi wärmstens empfohlen. Anke war glücklich über diesen Tipp. Sie konnte sich von nun an auf die Geburt vorbereiten, was sie mit jeder Woche, die sie näher darauf zukam, mit mehr Lampenfieber erfüllte. Zufrieden legte sie ihre Hände auf den Bauch. Sie hoffte, wieder eine Bewegung ihres Kindes zu spüren. Geduldig wartete sie; das war eine Geduld, die sie ganz neu an sich selbst entdeckte.
Es sollte noch ein ruhiger Tag werden. Sie begann, eine Akte über den neuen Fall anzulegen, als das Telefon klingelte. Es war ihr langjähriger Kollege und guter Freund bei der Verkehrspolizei, Bernhard Diez: »Hallo Anke! Ich war heute Nacht an der Unfallstelle. Jetzt habe ich ein Problem.«
»Was für ein Problem?«, fragte Anke.
»Ich soll einen Bericht schreiben, wer von der Kripo am Unfallort eingetroffen ist. Ich weiß, dass du dich mit Erik Tenes abgesprochen hast und will euch nicht in Schwierigkeiten bringen. Aber ich habe große Pläne für meine Zukunft. Da wäre es nicht gerade förderlich, mit einem Lügenmärchen aufzufallen.«
»Was für Pläne hast du denn?« Anke wurde neugierig, obwohl ihr der Gedanke zusetzte, dass ihre Unaufrichtigkeit, was den Einsatz in der Unfallnacht betraf, auffallen könnte.
»Ich habe mich auf eine Übernahmeausschreibung zum Kriminaldienst beworben. Die Personalabteilung hat mir zugesichert, so bald wie möglich mit meinem Durchlauf bei den verschiedenen Abteilungen beginnen zu können. Mein Ziel ist es natürlich, in deine Abteilung zu kommen.«
»Das hört sich richtig gut an.« Anke würde sich tatsächlich freuen, Bernhard Diez als Arbeitskollegen zu bekommen. Seit Jahren kannten sie sich schon und ihre Zusammenarbeit war immer effektiv. Aber einen gefälschten Bericht konnte Bernhard sich in dieser Situation wirklich nicht leisten. Deshalb sprach sie das Einzige aus, was in dieser Situation zu sagen war: »Schreib den Bericht wahrheitsgemäß. Den Rest werden Erik und ich schon regeln.« Dabei klang sie zuversichtlicher, als sie in Wirklichkeit war.
Bernhard bedankte sich bei ihr und legte auf.
Gegen Abend kehrte Erik als Erster zum Landeskriminalamt zurück. Das war die beste Gelegenheit, ihm von ihrem Telefonat mit Bernhard zu berichten. Als Erik sich alles angehört hatte, beschloss er: »Ich gehe zum Chef bevor der Bericht auftaucht. Damit ist das Missgeschick aus der Welt!«
»Gar nichts wirst du tun«, bestimmte Anke so entschlossen, dass Erik staunte. »Dieser Bericht ist für die Abteilung der Verkehrspolizei. Es ist unwahrscheinlich, dass Forseti ihn überhaupt zu Gesicht bekommt. Also warum die Pferde unnötig scheu machen.«
»Ja, ja, die Pferde?«, lachte Erik über den Vergleich. »So ganz vergessen kannst du sie wohl nicht.«
Mit dieser Bemerkung versetzte er Anke einen wehmütigen Stich ins Herz. Bis zu ihrer Schwangerschaft war sie aktiv in einem Reitstall in Gersweiler geritten. Sie vermisste die Pferde – vor allem ein bestimmtes Pferd, den braven Wallach namens Rondo. Aber mit ihrem dicken Bauch und ihrer großen Angst, dass ihrem Kind etwas passieren könnte, wagte sie sich nicht mehr in die Nähe dieser großen Tiere.
Dunkelgraue Wolken setzten dem neuen Tag ihren Stempel auf. Dazu stürmischer Wind und Regen – alles, worauf Anke verzichten könnte. Zuhause bleiben ging nicht, sie hatte einen Termin bei der Hebamme in der Praxis ihres Gynäkologen. Den Weg dorthin legte sie zu Fuß zurück, was unter diesen Bedingungen kein Vergnügen war.
Sie musste nicht lange warten, bis sie aufgerufen wurde. Susi war eine kleine, rundliche Frau mit einem heiteren Gesichtsausdruck, immer fröhlich und zum Lachen aufgelegt. Ihre dunklen Locken wippten bei jeder Bewegung. Allerdings wirkte die Hebamme an diesem Morgen übernächtigt. Dunkle Ringe hatten sich um ihre Augen gebildet und von ihrer sonst so unbeschwerten Heiterkeit war nicht viel zu merken.
»Was ist los, Susi?«
»Nichts!« Sie schüttelte ihren Kopf, dass die Locken munter hin und her flogen.
»Entschuldige, es geht mich nichts an«, lenkte Anke gleich ein.
Diese Reaktion erstaunte Susi. Eine Weile schaute sie Anke an und sagte dann: »Du merkst aber auch alles.«
»Was soll das heißen?«
»Dass bisher keine meiner Freundinnen so aufmerksam gewesen wäre, wie du gerade jetzt. Dabei kennen wir uns erst seit wenigen Sitzungen.«
»Das macht wohl mein Beruf aus.«
»Ich habe wirklich ein Problem, an dem ich mehr nage, als ich anfangs gedacht hätte.«
Anke horchte auf.
»Meine Freundinnen Rita, Annette und ich hatten Samstagnacht ganz toll gefeiert. Wir waren auf einer Party von Bekannten eingeladen; die Stimmung war toll und wir hatten reichlich getrunken. Weil ich den klarsten Kopf von uns dreien hatte, habe ich uns nach Hause gefahren, was wohl nicht gerade das Intelligenteste war, was wir tun konnten.«
»Stimmt! Aber deswegen bist du bestimmt nicht so bedrückt.«
»Nein! Jetzt bekomme ich Drohanrufe.«
»Oh«, stutzte Anke. »Was hat der Anrufer oder die Anruferin gesagt?«
»Es war ein Mann und er hat gesagt: Ich weiß, dass du es warst! Dafür wirst du bezahlen! «
»Was meinte er damit?«
»Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht. Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Bei den ersten Anrufen habe ich noch gelacht und einfach aufgelegt, aber der Anrufer hat sich immer wieder gemeldet, bis ich ihn ernst genommen habe. So oft, wie der angerufen hat, kam es mir nicht mehr wie ein dummer Schuljungenstreich vor.«
»Hast du heute schon von ihm gehört?«
»Nein! Vielleicht bin ich zu früh aus dem Haus gegangen.«
»Gab es Streit auf der Party?«
»Nein, nicht im Geringsten.« Susi schüttelte energisch den Kopf.
»Wo war die Party?«
»In Saarbrücken, im Nauwieser Viertel. Dort wohnen einige Bekannte von uns in einer Wohngemeinschaft, was sich für große Partys geradezu anbietet.«
Anke hatte zwar noch nie die Gelegenheit bekommen, auf solchen Partys mitzufeiern, stellte sich das aber ganz toll vor.
»In der Nacht seid ihr dann den ganzen Weg bis Riegelsberg nach Hause gefahren?«
Susi nickte schuldbewusst.
In diesem Augenblick kam der Gynäkologe herein, begrüßte die beiden Damen und überreichte Susi die Lokalzeitung. Verwundert schaute Susi ihren Chef an, doch kaum hatte sie einen Blick auf den größten Artikel geworfen, da wusste sie, warum er das tat. Anke entdeckte ebenfalls den Bericht und gemeinsam lasen sie ihn durch. Es ging um den Unfall, der sich auf der Neuhauser Straße zwischen Saarbrücken und Rußhütte ereignet hatte. Darin wurde sogar das Unfallopfer namentlich erwähnt. Allerdings ließ der Bericht mehr Fragen offen, als er beantwortete.
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