»Warum so gefühlsdusselig? Das hilft bei unseren Ermittlungen nicht weiter.«
»Ruhe jetzt!«, unterbrach Jürgen das Streitgespräch, wofür er erstaunte Gesichter erntete. »Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass ich eure Streitereien schnellstmöglich unterbinden muss.«
»Hat Sybille Lohmann etwas zu vererben?«, fragte Anke schnell weiter.
»Das muss ich noch herausfinden«, gab Jürgen zu. »Aber es ist Sonntag, da bekomme ich nicht alle Informationen.«
Das Telefon klingelte. Es war Dr. Thomas Wolpert, der junge Rechtsmediziner, den Anke nur durch ihre regelmäßigen Telefonate kannte. Sie freute sich, dass ausgerechnet Thomas an diesem Wochenende Dienst hatte, weil sie gern mit ihm plauderte.
»Wir haben erste Ergebnisse, die ich dir durchfaxen möchte«, erklärte er.
»Ist das alles, was du mir sagen willst?«, fragte Anke etwas enttäuscht.
»Nein, so schnell bekommst du mich nicht mehr aus der Leitung.«
»Das beruhigt mich! Also, was kannst du mir schon vorab über die Tote sagen?«
»Wir haben hier so unsere Zweifel«, begann er geheimnisvoll. »Die Tote hat eindeutig Kohlenmonoxid im Blut, was die Todesursache ist. Außerdem haben wir die Schürfwunden an beiden Unterarmen untersucht, die die charakteristische Hyperämie, verursacht durch die erhöhte Anzahl von Leukozyten, aufweisen.«
»Das klingt in meinen Ohren eindeutig.«
»Ja, aber das ist noch nicht alles. Wir haben keinerlei Rußpartikel in Atemwegen und Lunge der Toten gefunden. Außerdem haben wir weitere Verletzungen an beiden Knien gefunden, die eindeutig postmortal eingetreten sind. Diese Wunden zeigen keinerlei Eiweißreaktion und sind hart und gelb.«
»Was sagt uns das?«
»Das fragen wir uns auch. Wir werden noch alle möglichen toxikologischen Untersuchungen durchführen, die uns mehr über den genauen Todeszeitpunkt aussagen können«, erklärte der Rechtsmediziner.
»Du bist dir also nicht sicher, ob das Opfer bei dem Unfall gestorben ist?«
»Nein, nicht hundertprozentig. Deshalb dürfen wir nichts außer Acht lassen.«
»Es könnte aber doch sein, dass die Frau bei dem Absturz des Wagens starb, kurz bevor das Feuer ausbrach?«, spekulierte Anke weiter.
»Sicherlich! Aber an was? Sie hatte keine Knochenbrüche, ihr Genick war heil, die Schädeldecke ebenso. Woran könnte sie gestorben sein, bei dem Aufprall? Vielleicht an einem Herzinfarkt, weil ein gewaltiger Schreck vorausgeht, wenn ein Auto in einen Graben stürzt«, überlegte Thomas weiter.
»Kannst du das Herz noch untersuchen? Die Leiche war stark verkohlt«, zweifelte Anke.
»Die inneren Organe sind gut erhalten. Das ist immer das Erstaunliche bei Brandleichen. Die hohe Temperatur nimmt zum Körperinneren schnell ab, weil sie das Fett und den hohen Wassergehalt nicht durchdringen kann.«
»Wenn das so ist, dann kannst du doch das Herz auf einen Infarkt untersuchen«, schlug Anke vor.
»Dir liegt aber viel daran, diesen Fall so einfach wie möglich zu machen«.
»Du hast es erkannt. Ich bin jetzt werdende Mutter, da wünsche ich mir nichts sehnlicher, als eine komplikationslose Zeit bis zum Mutterschutz.«
»Das kann ich verstehen.«
Mit dem Bericht des Rechtsmediziners machte sich Anke auf den Weg zu ihrem neuen Vorgesetzten. Es war für sie immer noch ein befremdliches Gefühl, wenn sie in Kullmanns ehemaliges Büro trat und dort Dieter Forseti am Schreibtisch sitzen sah. Nichts mehr in diesem Büro verriet etwas über Kullmanns dreißigjährige Dienstzeit, die er in diesen Gemäuern verbracht hatte. Und trotzdem war Kullmann niemals ausgelöscht. Viel zu beeindruckend und zu erfolgreich war seine jahrzehntelange Arbeit gewesen. Dieter Forseti war das genaue Gegenteil, was Ankes Erinnerungen an ihren ehemaligen Chef eigentlich noch leichter machte. Kullmanns warmherzige Ausstrahlung und seine gemütliche, väterliche Erscheinung vermisste sie am meisten. Forsetis Aussehen war aristokratisch, tadellos; sein Auftreten unnahbar und unpersönlich. Über sein Privatleben wusste sie gar nichts, weil er niemals ein außerdienstliches Wort sprach. Das behagte Anke nicht, weil sie dadurch einfach nicht den Menschen hinter der Fassade sehen konnte.
Er las den Bericht gründlich durch, bevor er den Kopf hob und seine drei Mitarbeiter der Reihe nach anschaute. Anke ahnte schon, dass dieser Blick nichts Gutes bedeutete, und so war es auch.
»Ist es wirklich notwendig, mir diesen Bericht zu dritt vorzulegen?«
Esther und Jürgen verstanden diese Anspielung sofort und eilten aus dem Büro. Anke blieb nichts anderes übrig, als stehenzubleiben, weil sie die Beauftragte war.
»Nach diesem Befund steht nicht eindeutig fest, dass das Opfer noch geatmet hat, als das Feuer ausbrach. Genauso wenig steht fest, dass sie nicht mehr geatmet hat. Also dürfen wir weder einen Unfall mit Todesfolge noch ein Tötungsdelikt ausschließen.«
Damit machte Forseti Ankes Hoffnung auf eine schnelle Lösung des Falls zunichte.
»Die Tatsache, dass in den Atemwegen und in der Lunge keine Rußpartikel gefunden wurden, rät uns zur Vorsicht.«
Anke wartete darauf, dass er ihr endlich sagte, was sie nun tun sollte.
»Beauftragen Sie das Kriminallabor, die Spurensuche auf das Haus der Toten zu erweitern! Nach diesem Bericht besteht die Möglichkeit, dass die Frau schon tot war, bevor das Auto zu brennen begann.«
Anke nickte und wollte sich geschwind aus dem Raum verdrücken, als Forseti sie aufforderte zu bleiben. Mit einem Seufzer drehte sie sich um. Seine Strenge hatte um seinen Mund Falten bilden lassen – Zeugen seiner Unnachgiebigkeit. Seine Stirn war ebenfalls in Falten gelegt, als sei er unentwegt am Nachdenken.
»Ich habe den Eindruck, dass hier in meiner Abteilung Dinge geschehen, die sich meiner Kenntnis entziehen«, begann er emotionslos.
Anke wurde ganz heiß zumute.
»Ist Ihnen nicht gut?«, lenkte er plötzlich ein, worüber Anke noch mehr überrascht war. »Setzen Sie sich doch, bevor Sie umfallen!«
Die junge Frau nutzte die Gelegenheit, sich auf das nun folgende Gespräch vorzubereiten. Sie musste standhaft bleiben, was ihr in ihrem Zustand nicht so leichtfiel. Ihre Schwangerschaft brachte in letzter Zeit häufiger schlechte Launen und damit verbunden schlechtes Taktieren in unerwarteten Situationen zutage. Das musste sie in den Griff bekommen, denn sie könnte Erik in Schwierigkeiten bringen. Das hatte er bestimmt nicht verdient.
»Ich glaube, es geht wieder«, keuchte Anke theatralischer, als ihr Zustand eigentlich war.
Ihr Chef biss prompt an. Er schaute sie eine Weile schweigend an, schüttelte dann den Kopf mit den Worten: »Wir werden uns ein anderes Mal darüber unterhalten, wenn es Ihnen wieder besser geht.«
Anke freute sich innerlich wie ein kleines Kind, dass ihr dieser Schachzug gelungen war. Doch sie bekam keine Gelegenheit, diese Freude auszukosten, da wurde die Tür aufgestoßen und Claudia und Erik traten ein. Als Ankes und Claudias Blicke sich trafen, hatte Anke nur noch einen Gedanken: so schnell wie möglich dem Raum zu verlassen. Aber so sollte es nicht kommen, weil Erik sie am Arm leicht berührte und ihr ein Zeichen gab zu warten.
»Wir haben Sven Koch nicht zu Hause angetroffen«, begann Claudia zu berichten. »Von Nachbarn haben wir allerdings erfahren, dass Mutter und Sohn sich am gestrigen Abend heftig gestritten haben. Sven hatte die Küchentür geöffnet, die zum Nachbarhaus zeigt, weshalb die Nachbarn den Streit deutlich hören konnten.«
»Haben die Nachbarn verstehen können, worüber die beiden sich gestritten haben?«
»Sie haben nur verstanden, dass die Mutter gegen den Willen ihres Sohnes noch am gleichen Abend wegfahren wollte«, antwortete Claudia.
»Wohin?«
»Das haben die Nachbarn nicht verstanden.«
»Wie könnte dieser Streit im Zusammenhang mit dem Unfall stehen?«, überlegte Forseti laut.
Читать дальше