Petra, mit der er seit einigen Monaten zusammen war, begleitete ihn sichtlich stolz zu fast jedem Gig. Timm selbst sah „die Sache“, wie er seine erste Beziehung nannte, wesentlich nüchterner als Petra. Sie hatte lange darum gekämpft, ihn für sich zu interessieren. Auf der letzten Klassenfahrt hatte er einfach nicht länger nein sagen können. Vielleicht verletzte seine Unnahbarkeit sie, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Ebenso, wie er ihre Anhänglichkeit tolerierte. In seiner Gegenwart war sie stets fröhlich und wirkte verliebt. Timm nahm sich nicht die Zeit, sich zu fragen, ob ihm eine solch unausgeglichene Beziehung reichte, ob er vielleicht etwas ganz anderes wollte oder sogar gar keine Freundin. Wenn es morgen aus gewesen wäre zwischen ihnen, hätte es ihn wohl kaum berührt. Petra passte perfekt in sein Leben. Sie forderte nichts, außer ein wenig seiner Aufmerksamkeit und ging mit ihm, wohin er wollte.
An einem heißen Spätsommersamstag stand sie plötzlich neben seinem DJ-Pult und legte ihm drei bunte Pillen neben seine Cola. Timm trank keinen Tropfen Alkohol.
“Die musst du probieren, das ist unglaublich. Wie fliegen. Alles ist soo leicht...“
Timm sah sie skeptisch an. „Lass die Finger weg von den Drogen, Petzi. Guck dir die ganzen Leute doch an, die jedes Wochenende etwas anderes einwerfen.“
„Ach, Mensch, Timmy. Du bist ein echter Spielverderber. Du stehst hier an deinem Mischpult und liebst, was du tust. Gönn´ mir doch auch ein bisschen Spaß.“
„Drogen sind kein Spaß, und das weißt du ganz genau.“
Sie tänzelte davon, hinein in die wogende Menge, in der wahrscheinlich achtzig Prozent der Leute diese Pillen genommen hatten.
Während der nächsten zwei Stunden würdigte Timm die Pillen keines Blickes. Er brauchte kein Ecstasy, um high zu sein. Später, beim Einpacken, steckte er die Dinger achtlos in die Brusttasche seiner Jeansjacke und fuhr nach Hause, während Petra unermüdlich auch beim nächsten DJ weiter tanzte.
Nur eine Woche später waren Timm und Petra bei einer gemeinsamen Freundin eingeladen, auf deren Geburtstagsparty Timm ausnahmsweise mal nicht auflegte. Susanne konnte, wie so viele, mit Techno gar nichts anfangen. Sie liebte Independent und Rock und hatte deshalb einen anderen Freund gebeten, die Musik zu machen. Timm hatte sich erst vor der Party drücken wollen, hatte das dann aber doch nicht übers Herz gebracht. Jetzt stand er mit Petra in einer Ecke und fühlte sich irgendwie unwohl. Die Musik langweilte ihn zu Tode. Er hatte weder Bock zu reden, noch zu tanzen. Das hier war gar nicht seine Welt, und er spürte das mit jeder Faser seines Körpers. Doch er wollte Susanne und Petra auf keinen Fall enttäuschen. Es bedeutete ihnen viel, dass er hier war. Die paar Stunden würde er ihnen zuliebe schon durchhalten.
Petra hatte immer und überall Spaß. Das war vielleicht ihre größte Stärke, die er ganz besonders an ihr schätzte. Sie zerrte ihn kurze Zeit später fröhlich hopsend auf die enge Tanzfläche. Sie musste einfach tanzen, wenn sie Musik hörte, egal, welche. Wie anders war er doch, dachte Timm. Für ihn gab es nur noch Techno. Jede andere Musik erschien ihm furchtbar. Er gab sich Mühe, seine wahren Gefühle zu verbergen, fühlte sich aber gerade deshalb auf der Tanzfläche wie ein schwerer, steifer Betonklotz. Nach drei Liedern zog er sich wieder einmal auf die Toilette zurück. Dort kämpfte er tapfer gegen die Abwärtsspirale der negativen Stimmung. Er versuchte, sich mental zu motivieren, den Abend durchzuhalten, als er sich unvermittelt an die Pillen in seiner Jackentasche erinnerte. Vielleicht sollte er doch einmal eine probieren? Er kämpfte nicht lange mit sich, denn er erinnerte sich an seinen Schwur. Koste es, was es wolle… Mit einem Schluck Leitungswasser spülte er eine grüne Pille hinunter.
Zurück bei Petra fühlte er sich bereits entspannter, dem Geschehen um sich herum und seinen eigenen Reaktionen und Emotionen weniger ausgeliefert. Eine halbe Stunde später spürte er den Rhythmus der Musik in seinem ganzen Körper so deutlich wie seinen eigenen Herzschlag und ließ sich einfach von ihm bewegen. Mit einem Mal spielte es gar keine Rolle mehr, ob er Indie oder Techno hörte. Er fühlte die Musik in sich, und er liebte es. Petra sah ihn fragend an. So kannte sie Timm gar nicht. War er endlich aufgetaut, fragte sie sich. Timm tanzte und tanzte, zu jedem Song, zu jedem Beat, völlig frei und losgelöst. Die Abwehr, die Beklemmung und die Hemmung von vorhin waren gänzlich vergessen. Stattdessen breitete sich ein seltsames Gefühl des entspannten Glückes in ihm aus. Je mehr er tanzte, desto stärker wurde dieses Glücksgefühl, das fast seine Liebe zum Techno in den Schatten stellte.
Timm und Petra verließen die Party als Letzte und fuhren mit dem Fahrrad zu Timm nach Hause. Vor der Haustür hielt Petra ihn fest und sah ihm tief in die Augen. „Mal ehrlich, Timmy. Hast du eine von den Pillen genommen?“
„Nur eine.“
„Ist das nicht ein irres Gefühl?“
„ Ich hab´s mir nicht so befreiend vorgestellt.“
Petra küsste ihn leidenschaftlich. Fast hatte er das Gefühl, als liebe sie ihn dafür, dass er eine Ecstasy genommen hatte, noch mehr. „Willkommen im Club“, sagte sie grinsend, während er sich über diese Logik wunderte.
Obwohl die Wirkung der Pille längst nachgelassen haben musste, träumte Timm in dieser Nacht einen eigenartigen Traum. Er sah sich an seinem DJ-Pult vor Tausenden von Leuten, die alle synchron zu seinen Beats tanzten. Die Masse wogte wie ein Wesen, wie ein Fischschwarm, der graziös durch das Wasser tanzte. Die Einzelnen schienen jegliche Identität verloren zu haben. Aber das war nicht erschreckend, sondern schön, schöner als alles, was Timm jemals gesehen und erlebt hatte. Irgendwie wusste er in diesem Moment, dass er deshalb auflegte: um diesen Zustand, an dem er selber teilhatte, zu erleben. Dieses Einheitsgefühl berührte ihn tief, bewegte ihn sogar zu Tränen. Dies war ein Moment der Seligkeit, der Glückseligkeit, und er wollte ihn unbedingt festhalten.
Doch Träume können grausam sein. Timm wachte unvermittelt auf. Er hatte noch nicht länger als eine Stunde geschlafen. Petra setzte sich verschlafen neben ihm auf. Kurz sah er auch sie mit den Augen der Verbundenheit und für diesen Moment liebte er sie. Erstmals sah er, wie hübsch sie eigentlich war, und für einen winzigen Augenblick schätzte er sie, ihre Zuneigung und ihre Anhänglichkeit, die plötzlich wie unerschütterliche Loyalität wirkten.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie ein wenig besorgt, als sie seinen verklärten Blick wahrnahm.
„Ja, ja, alles in Ordnung. Hab nur komisch geträumt...“
„Komisch? Was denn?“
„Weiß auch nicht. Ist schon wieder weg. Irgendwas vom Auflegen.“
Der Traum war flüchtig. Ebenso flüchtig wie das Einheitsgefühl, das Timms Unterbewusstsein für einen nächtlichen Moment in archetypische Traumbilder gefasst hatte. Am nächsten Morgen erinnerte Timm sich nur daran, dass er etwas Schönes gefühlt und gesehen hatte.
∞
Timms DJ-Karriere nahm weiter Fahrt auf. Er konnte sich vor Anfragen kaum retten und verbrachte fast jeden Nachmittag im Technostore. Mattes, der Besitzer, hatte ihn unter seine Fittiche genommen. Oft probierten sie im Hinterzimmer des Ladens neue Tracks gemeinsam aus oder kreierten Loops und ganze Songs.
„Du musst unbedingt im Sommer auf der Frank Beats auflegen, Timm“, sagte Mattes eines nachmittags.
„Auf der Frank Beats?“
„Ja, der Frank Beats!“
„Machst du Witze? Das Festival ist legendär.“
„Genau. Deshalb musst du unbedingt dabei sein.“
„Ehrlich, Mattes? Das ist ein Traum für mich.“
„Gut, dann hätten wir das also geklärt.“ Mattes klopfte Timm freundschaftlich auf den Rücken und spielte den nächsten Beat an.
Читать дальше