Das Tor öffnete sich automatisch, nachdem der Fahrer dem Wächter ihren Namen genannt hatte. Der lächelte sie an und nickte freundlich, als ihr Taxi in Schritttempo an ihm vorbeifuhr. Der Hund würdigte sie keines Blickes. Er schlief ungerührt tief und fest in der schwülen Hitze des indischen Nachmittags.
Sie folgten weiter der schmalen, palmengesäumten Straße, bis sie ein zweistöckiges Gebäude in satten Erdtönen erreichten, das über und über mit blühenden Ranken bewachsen war. Schon als Meera die Wagentür öffnete, stieg ihr der betörende, süßliche Duft von Frangipani-Blüten in die Nase. Automatisch atmete sie tief ein und spürte, wie sich etwas in ihr entspannte und zur Ruhe kam, das in den letzten fünfzehn Jahren immer rastlos und angespannt gewesen war.
Der Fahrer hatte bereits ihr Gepäck ausgeladen und es an einen eilig herbeigeeilten Porter übergeben, der geduldig auf sie wartete, während sie das Taxi bezahlte und dem Fahrer ungewöhnlich freundlich alles Gute wünschte. Vielleicht hatte er ja doch einen sechsten Sinn und sie war wirklich am Ziel ihrer Reise. Jetzt, als sie hier vor dem Hoteleingang stand, auf der Schwelle zu einem neuen Kapitel ihres Lebens, fühlte sie jedenfalls etwas, das sie lange nicht empfunden hatte: das Gefühl, sich endlich nicht mehr schützen zu müssen. Fast hätte sie wieder geweint, doch der Porter blickte sie auffordernd an. Er wartete darauf, sie zur Rezeption zu führen.
Sie folgte ihm in das Innere des zweistöckigen Gebäudes, das sie ein bisschen an eine französische Villa erinnerte. Die Fassade war aus beigefarbenen und bräunlichen Natursteinen gebaut, das Dach mit terrakottafarbenen Ziegeln gedeckt. Meera hatte Mühe, in der schattigen und angenehm kühlen Lobby etwas zu erkennen, nachdem das Sonnenlicht sie auf der ganzen Fahrt geblendet hatte. Zuerst hörte sie deshalb das laute Kreischen und Plappern eines munteren Papageien. „Hallihallo. Fremde. Hallihallo.“
Meera antwortete dem Vogel lachend. „Hallihallo. Wer bist denn du?“
„Ich heiße Captain Hook. Captain Hook. Hallihallo.“
„Hallo, Captain Hook. Ich bin Meera.“
„Meera, Meera, Meerabai!“
„Du kennst Meerabai?“ fragte sie erstaunt, denn ihr Name stammte tatsächlich von der bekannten indischen Heiligen, die im sechzehnten Jahrhundert in Rajasthan gelebt hatte. Janaka hatte Meera vor Jahren so genannt. „Dieser Name ist sehr besonders“, hatte er damals nach der Einweihungszeremonie, bei der er allen neuen Sannyasins indische Namen gegeben hatte, zu ihr gesagt. „Meerabai war die vielleicht größte Bhakta , die es je gegeben hat. Ihre Liebe zu Krishna, zum Göttlichen, war so groß, dass sie jedes Hindernis und jede Gefahr überwand. Sie konnte an nichts anderes denken als an ihren Geliebten, sang von ihm Tag und Nacht. Die Sehnsucht nach ihm zerriss fast ihr Herz. Dein Weg ist der Weg dieser Liebe, Meera. Doch dieser Weg ist der schwierigste von allen. Er ist wie das Balancieren auf Messers Schneide. Wenn du abrutschtst, wirst du dich schwer verletzen. Nur wenn dein Herz vollständig von der Liebe gereinigt ist, wirst du dein Ziel erreichen. Du musst den Mut haben, dich ganz und gar in der Liebe zu verlieren...“
Die warme Stimme des Concierge riss sie aus ihren Erinnerungen. „Willkommen im Cozy Yoga Resort. Captain Hook ist ein schlauer Kerl, der wirklich weiß, wer Meerabai ist. Wir singen hier oft ihre Bhajans. Manchmal singt er sogar mit oder er flötet dazu. Nicht wahr, Captain Hook?“
Wie zur Bestätigung stimmte der Papagei eine melancholische Melodie an.
„Sie sind also auf jeden Fall richtig bei uns.“ Der Concierge lachte fröhlich und sie stimmte - zurückhaltend zwar - in sein gelöstes Lachen mit ein. „Sie werden drei Wochen bleiben?“, fragte der Concierge.
„Ja. Voraussichtlich.“
„Wunderbar. Dann werden Sie sehr viel Zeit haben, sich gut bei uns zu erholen und viel von Goa zu sehen.“
„Ich habe sehr viel von Goa gehört und wollte schon lange herkommen. Jetzt bin ich endlich da.“
„Dann noch einmal ein herzliches Willkommen. Bitte füllen Sie das Anmeldeformular in aller Ruhe aus und geben es mir später zurück. Jetzt sind Sie sicher müde. Rajkumar wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Wenn irgendetwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit ist, geben Sie mir bitte sofort Bescheid. Wir finden eine Lösung.“
Im ersten Moment dachte sie, dass dieser Hotelangestellte sehr gut dressiert war und seine Rolle als zuvorkommender Freund perfekt spielte. Ihre Gefühle widersprachen. Seine Worte und Versprechungen fühlten sich echt und ehrlich an. Doch gerade diesen Gefühlen vertraute sie nicht mehr. Wie viele Worte und Versprechungen hatte sie schon für echt und aufrichtig gehalten, die doch nur leer und unaufrichtig gewesen waren.
∞
Rajkumar führte Meera durch das Haupthaus hindurch, hinaus ins Freie, über verschlungene Wege zwischen zweistöckigen Bungalos, die wie kleine Kopien des Haupthauses aussahen, kreuz und quer durch die Anlage. Unmöglich konnte sie sich den Weg merken. Überall zwitscherten Vögel, zirpten Grillen, schwirrten Insekten. Und immer wieder erreichte sie der unvergleichliche Duft der Frangipani, die neben Hibiskus und anderen exotischen Pflanzen und Blumen auf den Wiesen und in den Beeten des paradiesischen Hotelgartens standen.
Fast fünf Minuten später hatten sie endlich ihr Zimmer im Parterre eines Bungalows direkt am Meer erreicht. Meera roch den salzigen Duft und hörte die ersten Wellen. Rajkumar öffnete die schwere, eisenbeschlagene Holztür und führte sie hinein. Er schien ihre Reaktion sehr genau zu beobachten. Meera spürte seine Neugierde. Wie viele Gäste mochte er schon auf ihre Zimmer gebracht haben? Wie oft hatte er sie wohl Staunen sehen? So, wie Meera jetzt. Die weiß gekalkten Wände waren mit erdfarbenen Mandalas bemalt. Das große Bett aus dunklem Teakholz hatte einen weißen Baldachin. Überall standen kleine Vasen mit Blumen. In einer Ecke, direkt neben dem großen Fenster, gab es einen kleinen Altar, auf dem ein Elefantengott stand.
„Das Zimmer ist wunderschön, Rajkumar. Danke.“
Der Porter lächelte glücklich. Meera spürte, dass ihre Reaktion ihn berührte und erfreute.
Rajkumar stellte ihren Koffer neben den Wandschrank und ging Richtung Fenster. „Warten Sie, bis Sie den Blick gesehen haben, Miss Meera.“
Stolz öffnete er die Tür zur Veranda, die wie ein Safarizelt mit Stoff überdacht war und zwei herrlichen Liegen mehr als ausreichend Platz bot. In etwa fünfzig Meter Entfernung sah sie den gelben Strand und das tiefblaue Meer. Ein Schauer des Wohlbefindens lief ihr durch den ganzen Körper. Wann hatte sie sich zuletzt so gefühlt? Ihr war, als sei das in einem anderen Leben gewesen. In einem Leben, an das sie sich kaum mehr erinnerte.
Rajkumar ließ die Türen zur Veranda weit geöffnet und kam zurück ins Zimmer, um ihr die wichtigsten Dinge zu erklären.
„Das ist unser Haustelefon. Über die 202 erreichen Sie die Rezeption. Hier in diesem Prospekt finden Sie alle wichtigen Informationen zu den Mahlzeiten, Yogastunden, Meditationen, Ausflügen. Alles, was wir täglich für unsere Gäste anbieten.“
Meera hatte plötzlich große Mühe zuzuhören. Ihr Kopf schien leer und schwer von Begriff. Langsam wiederholte sie: „Rezeption 202?“
„Die Nummer finden Sie auch hier in unserem Prospekt. Sie müssen sehr müde sein, nach Ihrer langen Reise, Miss Meera.“
„Ja. Das bin ich auf einmal. Ich glaube, ich lege mich direkt ein bisschen hin.“
Sie drückte Rajkumar dankbar ein paar Rupien in die Hand und schloss die Tür hinter ihm.
„Ein fremder Mensch ist aufmerksamer und fürsorglicher zu mir, als die Menschen, die mir am meisten bedeuten“, dachte sie erschüttert, nur um sofort wieder den Schmerz und die negativen Erinnerungen niederzukämpfen.
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