Petra kreischte wie verrückt, als sie hörte, dass Timm im Sommer auf dem weltberühmten Techno-Festival an einem Baggersee außerhalb von Frankfurt spielen würde. „Timmy, das ist Wahnsinn. Nimmst du mich mit?“
„Natürlich, Petzi. Du bist überall dabei!“
„Ich kann´s kaum erwarten. Da sind alle. Einfach alle.“
„Ja, und wir zwei.“ Timm umarmte Petra herzlich und ließ sie seine Freude und Zuneigung spüren.
Petra wirkte auf einmal nachdenklicher als sonst. „Ich weiß gar nicht, was wir ohne die Musik machen würden.“
„Wie meinst du das?“
„Ich meine, Techno bedeutet uns so viel. Wir verbringen soviel Zeit damit. Du noch mehr als ich. Ich hab´ das Gefühl, dass es nichts auf der Welt gibt, das uns so wichtig ist. Nichts, das uns so sehr verbindet.“
Timm ließ sich von ihrer Nachdenklichkeit anstecken. „Ja, das ist wahr. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nur am DJ-Pult und durch die Musik wirklich lebe.“
„Und wir gehören alle zusammen. Ich meine, die, die Techno lieben, sind wie eine große Familie. Wir verstehen uns blind. Wir lieben das Gleiche, wir denken das Gleiche, wir machen das Gleiche. Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas gibt.“
Timm sagte nichts mehr. Ihre Worte hallten in ihm nach. Irgendwie erschienen sie ihm groß und wichtig. Warum hatte er noch nie so über Techno nachgedacht? Ja, auch er hatte das Gefühl, irgendwie angekommen zu sein; das gefunden zu haben, was ihn ausmachte und erfüllte. Techno bedeutete ihm alles. Die Liebe zur Musik erfüllte ihn mit nie gekannter Leidenschaft. Er hatte das Gefühl, endlich das gefunden zu haben, was ihn ausmachte. Die Musik gab ihm Kraft, Identität und Selbstbewusstsein.
Das nächste Ziel stand für Timm also fest. Je konzentrierter er darauf hinarbeitete, desto rasender verging die Zeit. Timm bereitete sich akribisch auf seinen Auftritt auf der Frank Beats vor. Mattes spielte ihm ungefragt immer wieder neue Ideen und Anregungen zu. Er rückte nicht richtig mit der Sprache heraus, aber Timm hatte das Gefühl, als wolle er ihn aufbauen, als hätte er in Zukunft irgendetwas mit ihm vor.
Und dann war es endlich soweit. Timm und Petra standen im Hochsommer zum Soundcheck auf der riesigen Bühne des sandigen Festival-Areals, das größer als zwei Fußballfelder sein musste. Bald würden hier tausende Technofans aus aller Welt vor ihnen stehen und tanzen. Timm sah es schon vor seinem geistigen Auge. Das Ganze wirkte auf die beiden Schüler vollkommen surreal und überwältigend.
Die Sonne knallte vom blauen Himmel. Das Wetter war einfach perfekt für diesen Rave, der am späten Freitagnachmittag begann und erst Sonntagmorgen enden würde. Mattes kam vorbei und klopfte Timm auf die Schulter. „Na, aufgeregt?“
„Total. Meine Knie schlottern. Diese Bühne und dieser Blick sind einfach gigantisch.“
„Du machst das schon. Denk daran: du tust hier nur, was du immer machst und am besten kannst. Lampenfieber ist gut. Es gibt einem den nötigen Kick, um noch ein bisschen besser zu sein als sonst.“
Und genau so war es. Timm war einer der ersten Künstler, die am Freitag das Festival eröffneten. Als er von seinem Synthesizer aufsah und in die erwartungsvolle Menschenmenge blickte, klopfte sein Herz rasend schnell und laut. Jetzt galt die gesammelte Aufmerksamkeit ihm. Jetzt konnte er zeigen, was er konnte. Mit seiner Musik konnte er die Menge in Ekstase versetzen. Er konnte ihr Freude schenken, das Gefühl, sich wie ein Wesen zu bewegen, eine große, begeisterte Einheit zu sein. Nach den ersten Tracks spürte er, dass der Funke übersprang, dass seine Intention aufging und seine Musik ankam. Jetzt erst verstand er, dass Techno so viel mehr als Musik, Tanz und Vergnügen war. Techno war eine Einstellung, eine Lebensart, eine Philosophie, die einen beinahe unergründlichen Tiefgang zu haben schien und sich mit nichts vergleichen ließ, das er bisher kannte oder erlebt hatte.
Sie rauschten euphorisch durch die Tage auf der Frank Beats. Nach seinem Gig war Timm selbst in die Menge getaucht, hatte mit Petra die ganze Nacht durch getanzt und alles andere vergessen. Es hatte nur noch diesen Moment gegeben und sonst nichts.
Wenn Timm später nach dieser Zeit gefragt wurde, fand er nie die richtigen Worte, um sie zu beschreiben. Er sagte dann immer: „Das alles war größer als wir. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich richtig lebendig und dazugehörig gefühlt. Das alles war ich. Es war genau so, wie ich sein wollte, wie ich mich ausdrücken wollte. Alle waren so und alle wollten dasselbe.“
Nach seinem Auftritt auf dem Festival wurde Timm mit Angeboten für Gigs überschwemmt und verkaufte inzwischen eigene Aufnahmen in Mattes Laden. Dies war keine Zeit für Selbstzweifel, keine Zeit zur Selbstreflexion. Das Leben schenkte Timm Spaß, Anerkennung und vieles mehr, und er musste nie darüber nachdenken, welchen Schritt er als nächstes machen sollte. Die Frage, ob er das Richtige tat, stellte sich ohnehin nicht.
„Hör mal, Timmy. Wann wirst du denn endlich achtzehn?“, fragte Mattes ihn irgendwann. Timm spürte, dass dies ein ernsteres, wichtigeres Gespräch war, als sonst.
„Nächstes Jahr im November! Warum?“
Mattes lachte. „Es gibt ein paar Leute, die dich gerne häufiger hören würden.“
„Ich will das Abi machen, Mattes. Ich will unbedingt studieren.“
„Das schaffst du doch mit links, oder?“
„Na ja. Ich muss schon was dafür tun. Ohne Petra wäre es viel schwieriger. Sie hilft mir oft aus, wenn ich in der Schule zu müde bin und nur die Hälfte verstanden hab.“
„Ihr seid ein gutes Team. Ich mag Petzi. Also, nochmal fürs Protokoll: nächsten November wirst du achtzehn und im Sommer darauf machst du Abi?“
„Wenn alles so läuft, wie geplant...“
MEERA
Nach einer traumlosen Nacht erwachte Meera vom aufgeregten, morgendlichen Kreischen der Möwen, die vom Meer über den Hotelgarten hinweg segelten. Meeras Körper fühlte sich schwer und wie erschlagen an, obwohl sie gut geschlafen hatte. Nichts hätte sie motivieren können aufzustehen. Weder die herrliche Sonne, noch der goldgelbe Strand, oder das blaue Meer. Nicht einmal die Aussicht auf viele, tolle Sehenswürdigkeiten, oder Yoga und Meditation. Sie wollte einfach nur schlafen; so lange, bis sie endlich nicht mehr matt und müde war, ganz egal, wie lange das dauern würde.
Sie schlief direkt wieder ein, bis die Hitze des Mittags sie erneut aufweckte. Das Zimmerthermometer zeigte fünfunddreißig Grad. Der Himmel war wolkenlos und die Luftfeuchtigkeit hoch. Ende Oktober! Meera verließ das Bett matt und dösig für eine kurze kalte Dusche. Die Banane von gestern Abend und zwei Datteln aß sie auf der Terrasse und trank dazu einen Tee, den sie mit dem zimmer-eigenen Wasserkocher selbst aufbrühte.
Es schien sehr ruhig in der Hotelanlage. Die meisten anderen Gäste waren sicher am Strand oder unterwegs, überlegte Meera. Stille und Alleinsein taten ihr seelisch gut. Doch körperlich verstärkten beide nur ihre unendliche Müdigkeit. Meera wusste, dass ihre Psyche sich mit extremer Erschöpfung schützte. Ihre Therapeutin hatte diese bleierne, körperliche Schwere Heilungskrisenfatigue genannt, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Das war kurz nach der Flucht aus Janakas Ashram gewesen.
Bei Nacht und Nebel war sie damals mit einem einzigen Rucksack geflüchtet. Sie hatte wochenlang auf den richtigen Moment gewartet und ihren Plan geheim gehalten. Inzwischen war sie die rechte Hand von Janaka geworden, hatte viel Verantwortung im Ashram und wusste viel zu viel. Janaka hätte sie niemals freiwillig gehen lassen, vor allem dann nicht, wenn er gewusst hätte, was sie vorhatte. Sie war die halbe Nacht durch den Wald nach Nordwesten gelaufen. Den ganzen nächsten Tag hatte sie sich im Unterholz versteckt. Erst in der darauffolgenden Nacht war sie weiter gewandert und hatte gegen Morgen Darmstadt erreicht. Dort war sie in einen Zug nach Hannover gestiegen. Ohne sich vorher angemeldet zu haben, hatte sie nach zwölf Jahren fast ohne Kontakt bei ihrer Mutter vor der Haustür gestanden. Die war in Tränen ausgebrochen, hatte kein Wort herausgebracht, keine Erklärung verlangt, sie einfach nur umarmt und festgehalten. Später hatte sie Meera im Souterrain ein Bett zurechtgemacht, ihr einen neuen Schlafanzug gebracht und gesagt: „Schlaf dich aus. Hier bist du sicher!“
Читать дальше