„Hey, Timmy. Was ist mit dir? Tanzen wir gleich den nächsten Blues?“
„Nee. Ich muss heim!“
„Was? Jetzt schon? Der Spaß fängt doch gerade erst an!“
Sie kam immer näher. Er fühlte sich bedrängt. „Ich hasse Blues!“
„Warum?“
Warum, hatte er sich bereits selbst die gesamte halbe Stunde gefragt, die er allein auf der Toilette gehockt hatte. Petras Fragen waren ihm unangenehm und noch mehr ihre Distanzlosigkeit. Er fühlte sich irgendwie ertappt und wollte nichts als seine Ruhe haben. „Weiß nicht. Mag´s halt nicht“, gab er deshalb nur lakonisch von sich und blickte dabei unbeteiligt aus dem Fenster.
Ihr Blick wurde ein wenig hämisch, fast verächtlich. „Bist du etwa zu schüchtern!?“
„Ich muss jetzt wirklich nach Hause, Petra.“
Unsanft schob er sie an die Seite und rannte wie ein Gejagter aus der Tür, durch die halbe Schule und endlich hinaus ins Freie, tief verstört von seinen eigenartigen Empfindungen der Abwehr und der Scham. Warum wollte er nicht, was alle anderen toll fanden? Warum fand er es sogar so schlimm, dass er sich verstecken und weglaufen musste? Den Tränen nahe, konnte er in diesem Moment seine unsagbare Einsamkeit kaum ertragen. Ein eigenartiger Schmerz legte sich auf seine Brust, so schwer wie ein Fels, der ihm auch die Kehle zuschnürte.
„Wie, schon zu Hause?“, fragte seine Mutter, als er viel früher als erwartet heimkam.
„Ja, war doof!“
„Hast du Hunger?“
„Nee. Bin müde.“
Sie sah ihm besorgt nach, als er sich in sein Zimmer zurückzog. So wortkarg und niedergeschlagen hatte sie ihren Sohn nur selten gesehen.
Timm schmiss sich auf seine Matratze und grub sein Gesicht in das Kissen, damit niemand hörte, wie verzweifelt er weinte.
Er lag an diesem Abend lange wach und kämpfte gegen die unbeherrschbaren Gefühle, die ihn noch immer fest im Griff hatten. Erst weit nach Mitternacht fasste er, des inneren Kampfes müde, einen tiefgreifenden Entschluss. So wollte er sich nie wieder fühlen. So würde er sich nicht wieder fühlen. Er beschloss an diesem Tag, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um sich selbst vor dieser tiefen Traurigkeit und Einsamkeit zu schützen. Es war wie ein Gelübde, wie ein heiliger Schwur, den er vor sich selbst und für sich ablegte: „Nie wieder werde ich mich so fühlen. Koste es, was es wolle!“
∞
Am nächsten Morgen ging es Timm wieder gut. Er war noch ein bisschen matt und müde, aber der Schmerz war fort, und eigenartigerweise wusste er, sobald er die Augen aufschlug, ganz genau, was er zu tun hatte. Es war alles ganz einfach; er sah es klar und deutlich vor sich.
Gleich am Wochenende fuhr er in den Technostore am Frankfurter Hauptbahnhof, in dem alle DJs der Stadt einkauften. Timm fragte die Verkäufer nach den neuesten Tracks, den aktuellen Trends und freundete sich schnell mit ihnen an. Plötzlich tauchte er in eine magische Welt ein und lernte jeden Tag etwas dazu. Er gab sein ganzes Taschengeld für Musik aus und schlachtete sein blaues Sparschwein für sein erstes, gebrauchtes DJ-Pult. Jeden neuen Track probierte er sofort aus, testete die besten Übergänge, stand täglich in seinem Zimmer hinter seinen Turntables und übte so lange, bis er jede Note und jeden Beat auswendig kannte. Und ein Jahr später, beim nächsten Klassenfest, legte er selbst auf; machte er die Musik.
Die Klasse tanzte ohne Pause zu seinen liebsten Elektro-Sounds. Plötzlich wollte keiner mehr Blues tanzen, und Timm hatte das Erlebnis vom letzten Jahr völlig vergessen. Hier und heute war er in seinem Element. Jetzt gab er den Ton an. Und er war gut, sehr gut sogar. Nichts liebte er mehr, als die Musik, die ihn elektrisierte, bewegte, beflügelte. Sie machte etwas mit ihm, veränderte ihn, und er ließ das gerne geschehen.
Spät an diesem Abend spielte er den letzten Song und beobachtete seine Mitschüler, die sich in den letzten Stunden fast in Ekstase getanzt hatten. So ausgelassen, so frei hatte er seine Freunde noch nie gesehen. Etwas war geschehen an diesem Abend, aber Timm hätte nicht sagen können, was.
Nach dem Wochenende zurück in der Schule, noch vor dem ersten Klingeln, umringte Timm ein großer Pulk von Klassenkameraden und bombardierte ihn mit Lob und Fragen.
„Was war das denn, Timm?“
„So coole Musik hab´ ich noch nie gehört.“
„Mega, was du drauf hast.“
„Ich will mehr davon.“
„Kannst du mir das aufnehmen?“
Timm wusste gar nicht, mit wem er zuerst reden, wem er zuerst antworten sollte. Der Englischlehrer, der pünktlich mit dem Gong die Klasse betrat, hielt von diesem Aufruhr gar nichts und scheuchte alle Schüler auf ihre Plätze. „Es ist ja toll, Timm, dass du deine Klassenkameraden mit dieser Elektro-Musik erfreut hast, aber heute ist Schule und nicht Klassenfete!“
Widerwillig grummelnd und schimpfend folgten alle der Aufforderung.
„Ich hoffe, deine Noten leiden nicht unter deinem musikalischen Interesse und Talent.“
Plötzlich applaudierten alle und Timm errötete.
∞
Von jetzt auf gleich war alles anders; Timm war ein anderer. Er wusste plötzlich genau, was er mochte, was er konnte und wollte. Timm begann, für das Auflegen und durch das Auflegen zu leben. Die Musik bestimmte fortan sein Leben, war in kürzester Zeit sein Lebensinhalt geworden. Nichts interessierte ihn so sehr. Nichts ließ ihn so sehr sich selbst vergessen. Schon im Sommer legte er auf der Schulparty auf und bewegte die Masse. Tausend Schüler der Mittel- und Oberstufe tanzten zu seinen Beats und jeder, der dabei war, fühlte sich besonders und beflügelt.
Seine Eltern beobachteten Timm zuerst besorgt, doch als sie merkten, dass es ihm gut ging und seine schulischen Leistungen nicht nachließen, ließen sie ihn machen. Irgendwie waren sie sogar stolz auf ihren Sohn, sein neu entdecktes Talent, seine Disziplin und Zielstrebigkeit. Er war ein Teenager und hätte seine Zeit auch ganz anders verbringen können.
Sogar seine zwei Jahre ältere Schwester begann, sich für Timm und seine Musik zu interessieren. Sie hing oft in seinem Zimmer ab, wollte immer die neusten Stücke hören und verteilte seine Aufnahmen stolz an ihre Freunde.
Schon nach kurzer Zeit spielte Timm erste kleinere, bezahlte Gigs. Und jeden Abend wieder sah er die Menschen tanzen und eins mit seiner Musik werden. Die meisten Tänzer vergaßen alles, solange die Musik spielte; sogar oder vor allem sich selbst. Viele berichteten von einem Gefühl der Leichtigkeit und Leere. „Mein Körper hat einfach getanzt. Ich hätte ihn nicht stoppen können“, beschrieben mehrere Freunde ihre Erlebnisse auf der Tanzfläche.
Die elektronische Musik versetzte alle in einen eigenartigen Rausch. Timm fühlte sich von einem nie gekannten Flow getragen, der ihn einfach mitriss. Er hätte sich nicht gegen diesen magischen Fluss wehren können und genoss das Gefühl, dass er nichts dafür tun musste, um Neues zu entdecken und weiterzukommen. Alles ergab sich wie von selbst, jeder nächste Schritt, jede Handlung, jede Entscheidung. Leider war er erst sechzehn und durfte deshalb keine Angebote bis spät in die Nacht annehmen. Er legte hauptsächlich auf Partys von Freunden oder Schulfesten auf. Doch weil er immer in seinem geliebten Technoladen unter dem Bahnhof auf der Suche nach neuen Sachen war, knüpfte er enge und wichtige Kontakte zu den älteren Vorreitern der Frankfurter Technoszene. Manchen gab er seine Aufnahmen und immer wieder hörte er dasselbe:
„Zu dumm, dass du noch keine achtzehn bist. Deine Musik ist wirklich besonders.“
Timm bekam sein erstes Engagement auf einem Rave in einer alten Lagerhalle im Casellahafen und legte zwei Mal im Monat samstags von elf bis vierzehn Uhr auf. Die Halle war immer voll. Viele der Raver kamen tatsächlich nur wegen ihm. Manche reisten von weit her an. In kürzester Zeit war er zu einem Geheimtipp der echten Raver geworden. Wer ihn kannte, gehörte wirklich zum engsten Kreis der Frankfurter Clubszene.
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