Stuttgart, den 21. 6. 53, Mein lieber Wolfgang!
Es ist völlig ungewiss, ob ich am 25. 7. noch hier sein werde. Was wird nun aus unserem Zusammenkommen? Ich möchte Dich bitten, wenn es geht, nicht kurz vor oder nach dem Umzug zu kommen, da ich bei der vielen Arbeit meine Gedanken zusammen halten muss. ... Ich freue mich sehr, dass Du Kaekke zum Freund hast. In seiner ruhigen Art ist er der richtige Ausgleich für Dich. Ganz herzliche Grüße, Deine Diethild
Berlin, den 27. 6. 53, Meine liebe Diethild!
... Ich habe Arbeit! Endlich! Ich bin Hilfsarbeiter in einer Drahtzaunfabrik. Meine Arbeit: hauptsächlich Zaunpfähle anstreichen. Jetzt machst Du wahrscheinlich „Oooch!“ Aber ich finde, Dienstmädchen und Hilfsarbeiter passen auch ganz gut zusammen. Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn man abends nicht wusste, was man am nächsten Morgen zu essen hat, jetzt in den Laden zu gehen und zu kaufen, was einem schmeckt.
Ich werde schon am 18. 7. bei Dir sein, gleich nach der Aufnahmeprüfung für die Ingenieurschule. Du brauchst also nicht unglücklich zu sein. ... Samstag soll ich mit der 18 jährigen Jutta Kohlmann zum Tanzstundenball gehen. Sie ist die ältere Schwester von Hoppel, auf den ich einige Hoffnung als Führer setze. Seine Mutter veranstaltet manchmal Tanzabende in ihrer Wohnung, Was meinst Du, gehe ich hin? Doch ich muss wohl der Mutter den Gefallen tun. Jetzt sind es nur noch drei Wochen, bis ich wieder bei Dir bin.
So lange sei herzlichst gegrüßt von Deinem Wolfgang
Stuttgart, den 4. 7. 53, Mein lieber Wolfgang!
... Ich freue mich, dass Du Deinen Fahrplan ändern konntest. ... Hoffentlich hast Du Dich auf dem Tanzstundenball mit Jutta wohl gefühlt und gut amüsiert Und das nicht nur Hoppels Mutter zuliebe, Du oller Mönch! ... So, für heute mache ich Schluss. Herzliche Grüße, Deine Diethild
Berlin, den 9. 7. 53, Meine liebe Diethild!
... Drück mir bitte am 16. und 17. die Daumen, ich sitze in der Prüfung für die Ingenieurschule, von der viel für mich abhängt. ... Ich machen jetzt Schluss, damit der Brief noch den Nachtbriefkasten kommt und Du ihn vor dem Wochenende hast. ... Ich grüße Dich ganz herzlich, Dein Wolfgang
Am 18. 7. erreichte Wolfgang abends Stuttgart und Sonntag konnte er endlich wieder mit Diethild tanzen. Es war herrlich, dieses wunderbare Mädchen im Arm zu halten. Ganz anders als noch im Frühjahr wusste er, dass er sie nie wieder lassen würde. Und als sie nach dem Tanz vor ihrer Haustür standen, überwand er sich und drückte seine Lippen auf ihren weichen Mund. Wie im Himmel fühlte er sich, als sie ihm liebevoll über die Wange strich. Eine Stunde lief er durch die Nacht, er musste einfach alleine sein. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er ein Mädchen geküsst. Der „Page von Hochburgund“ kam ihm in den Sinn, sie war die Königin seiner Liebe! „Danke, Gott für dieses Mädchen“, flüsterte er vor dem Einschlafen.
München, den 20. 7. 53, Meine liebe Diethild!
Noch sind keine 24 Stunden vergangen, dass wir voneinander Abschied genommen haben. Ich habe über die Notwendigkeit solcher Trennungen nachgedacht und finde, dass sie nötig sind, damit man erkennt, wie viel man sich gegenseitig bedeutet. Mir ging heute den ganzen Tag ein Gedicht durch den Kopf: „Der Page von Hochburgund“ von Börries Freiherr von Münchhausen, ahnst Du, warum?
Meine liebe Diethild, ich möchte Dir noch einmal herzlich für den schönen Tag in Stuttgart danken. Weißt Du, man hat es ja als Junge unheimlich schwer, durch diesen ganzen Wust der Entwicklung hindurch zu kommen, ohne sich Schrammen und Risse zuzuziehen. Da sind alte und junge, von denen man wegen seiner Einstellung verachtet und verlacht wird, da sind Mädchen, die im Gegensatz zu der Würde, die man von weiblichen Wesen erwartet, ihre Reize in aufstachelnder Form spielen lassen, und da ist nicht zuletzt der innere Schweinehund, der einem manchmal auch ganz schön zusetzen kann. Deshalb bin ich Dir so dankbar, für Deine Art, für das Bewusstsein, dass Du da bist und mir unsichtbar in diesem Kampf hilfst.
So sei nun vielmals herzlich gegrüßt von Deinem Wolfgang
Ich bin der Page von Hochburgund
und trage der Königin Schleppe.
Heut lachte ihr Mund, heut sprach ihr Mund
auf marmorner Pfeilertreppe:
„Page, was führtest du heimlicherweis’
zum Munde der Schleppe Spitzen?
Page, ich glaube du küsstest leis’
am seidenen Saum die Spitzen!“
Auf meine Knie warf ich mich hin
und bat um Gnade mit Stocken,
da lachte die junge Königin und zauste in meinen Locken:
„Die Heide dampft und die Stute stampft,
zur Strafe – darfst du mit jagen.
Den Falken, der um die Hand sich krampft,
meinen Falken, den sollst du tragen!“
Und wir ritten von dannen, fern blieb das Gefolg’
und ein Lachen lag mir im Blute;
an meiner Seite tanzte der Dolch
und unter mir tanzte die Stute.
Ich bin der Page von Hochburgund,
und trage die weiße Seide;
ich küsste heut’ einer Königin Mund
beim Reiterzug auf der Heide.
Stuttgart, den 22. 7. 53, Mein lieber Wolfgang!
... Ich weiß, dass es für einen Jungen ungleich schwerer ist, anständig zu bleiben, als für ein Mädchen. Deshalb schätze ich Deine saubere Art, in der Du mir gegenüber getreten bist, sehr hoch. Das habe ich bisher noch bei keinem Jungen so erlebt, und deshalb habe ich auch so großes Vertrauen zu Dir. Auch wenn Du von anderen verspottet wirst, darfst Du immer wissen, dass ich Deinen Kampf achte und würdige. ...
Und nun viele herzliche Grüße, ganz allein Deine Diethild
Das Pfadfindertreffen in der Schweiz dauerte zwei Wochen. Um danach die Freundin am Chiemsee zu besuchen, trampte Wolfgang Samstag früh los. Mehr als 600 km lagen vor ihm. Als er Sonntagmittag an Innsbruck vorbeikam, hätte er gerne seine Schwester besucht, doch ihm kam das Bibelwort in den Sinn: „Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen.“ An die Fortsetzung „und sie werden sein ein Fleisch“, dachte er nicht, das war noch unendlich weit entfernt. Um 20 Uhr erreichte er endlich den Chiemsee und sie hatten sich gefunden. Er hätte Diethild liebend gern wieder geküsst, aber wollte sie das auch? Als er sie verlegen anschaute, blickte sie ihm liebevoll in die Augen und dann auf den Mund. Das war ihr „Ja“ zu ihm, das sie ihm in der feinen Art edler Frauen gab! Er umarmte die geliebte Freundin, presste die Lippen auf die ihren und ohne dass sie es gelernt hatten, spielten ihre Zungen miteinander. Lange und immer wilder wiederholten sie dieses wundervolle Spiel und waren sich einig, nie vorher so glücklich gewesen zu sein. In tiefem Ernst gelobten sie sich Treue, weil sie beide wussten, dass Liebe zwischen ihnen war.
Endorf, den 11. 8. 53, Mein lieber Wolfgang!
... Es war ja so wunderschön, dass Du doch noch gekommen bist. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich den ganzen Tag umsonst gewartet hätte. Das mindeste wäre ein Anfall von Idiotie gewesen. Nun muss es aber wieder lange vorhalten! Ich möchte auf keinen Fall, dass Du alles Geld, in einer Stuttgartreise anlegst und Dich meinetwegen so verausgabst, nicht nur geldlich, sondern auch kräfte- und zeitmäßig. Ich behalte Dich immer gleich lieb, auch wenn ich Dich sehr lange nicht sehen kann. Schreib mir bitte recht oft. ... Nun noch viele liebe Grüße, und ich habe Dich ganz schrecklich lieb! Deine Diethild
Berlin, den 14. 8. 53, Mein liebes Mädel!
Zuerst einmal eine ganz große Freude: Ich habe die Aufnahmeprüfung bei der Ingenieurschule bestanden. Ach, ich bin so froh, denn diese Prüfung hat mir ziemliche Kopfschmerzen bereitet. Und eine halbe Stunde später hatte ich dann Deinen lieben Brief in Händen. Da war die Freude vollständig. Ich danke Dir dafür. ... Ich weiß nicht ob es Dir ebenso gegangen ist, mir fiel die Trennung viel leichter als der Abschied vor drei Wochen in Stuttgart. Aber damals war es der Abschluss einiger schöner Stunden, jetzt eine Trennung auf einige Zeit, aber mit dem bestimmten Bewusstsein, dass uns nichts mehr voneinander trennen kann. ... Du schreibst, ich solle mich Deinetwegen für eine Reise nach Stuttgart nicht unnötig verausgaben. Weißt Du, wenn ich komme, ist es nämlich nicht nur, damit Du etwas von mir hast, sondern auch umgekehrt. Wir haben uns lieb und werden uns wiedersehen. Ach könnte ich Dir doch nur sagen, wie sehr ich Dich liebe!
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