Stuttgart, den 12. 10. 53, Mein Lieberle!
Gelt, so lange hast Du schon lange nicht mehr auf Nachricht von mir warten müssen, doch jetzt muss ich erst mal meine Zentnergewichte von der Seele rollen: Gestern hat mich ein verflossener Klassenkamerad besucht, das war ein bisschen gemischt für mich. Erst haben wir von daheim erzählt, aber dann wurde er komisch und wollte mich küssen, da habe ich mich mit Händen und Füßen gewehrt, worauf er mich eine Kratzbürste nannte. Gelt, ich bin keine? Dann erklärte er mir, dass ich ihm mehr als andere bedeute. Ich fiel aus allen Wolken. Er hatte mir immer von seiner Freundin in Kleinmachnow erzählt, was mich unheimlich beruhigte. Ach, was bin ich doch für ein dummes kleines Mädchen. Als ich sagte, dass ich schon vergeben sei, machte er mir Vorwürfe, dass ich das nicht gleich gesagt habe. Ich kann ja wohl nicht gleich sagen: „Grüß Gott, komm mir nicht zu nahe, ich habe einen Freund!“ Aber erwähnt habe ich Dich immer wieder im Gespräch. Ich glaube auch, ihm in nicht anders entgegen gekommen zu sein, wie eben alten Schulkameraden. Wie bin ich doch froh, dass ich weiß, ich gehöre zu Dir und keinem anderen. Dadurch bleibt mir die Entscheidung erspart, ob ich ihn lieben kann oder nicht, was mir wegen des Mitleids Kopfzerbrechen machte. ... Nun sei von Herzen gegrüßt und lass Dir sagen, dass ich Dich immer lieb habe trotz aller Schulkameraden und sonstigem Geziefer. Viele gute Wünsche für Schule und alles andere, Deine Diethild
Berlin, den 14. 10. 53, Meine liebe Diethild!
Was ich Dir jetzt schreibe, passt wie die Faust aufs Auge zu Deinem letzten Brief. Ich weiß nicht, was mich damals, zwei Wochen nach Endorf zu den Worten veranlasst hat, unsere Liebe werde noch durch manche Stürme gehen. Das war jetzt auch bei mir der Fall:
Im Tanzkurs spielt ein Mädel eine wichtige Rolle, nämlich die „Tanzlehrerin“ Ingrid Heller, Alter ca. 18 Jahre. Sonntag ging ich mit ihr aufs Oktoberfest im Zoo. Wir fuhren zusammen Achterbahn, Schiffsschaukel und Flugsalto. Nach vier Stunden fuhren wir nach Hause, da meinte sie, es sei direkt wohltuend, mal mit einem Jungen zu gehen, der ihr nicht irgendwie zu nahe trete. Äußerlich war ich wohl so korrekt, aber in mir brannte es lichterloh und für den Kilometer von ihrer Wohnung bis zur Juttastraße brauchte ich 1½ Stunden. Selbstverständlich warst Du auch noch da, aber eben dieser Kampf in mir, der Eindruck, den dieses Mädel auf mich gemacht hatte und die Liebe zu Dir quälten mich sehr. Wir haben uns doch Liebe und Treue versprochen, wie konnte mich dann schon nach einem harmlosen Abend ein anderes Mädel beeindrucken? ... Aus Verzweiflung las ich alle Deine Briefe noch einmal. Du hattest geschrieben, dass Du keinen Menschen so liebst wie mich und fest glaubst, dass ich mir treu bleibe. Da war dann plötzlich alles wieder im natürlichen Licht, Du standest vor mir und ich wusste, dass ich nur Dich liebe. Der Nachmittag mit Ingrid war eine nette Episode.
Ich glaube, solche Versuchungen sind notwendig und werden nie aufhören, nur stärker werden. Sehr gut ist da die volle gegenseitige Offenheit, denn dafür schließen sich ja zwei liebende Menschen zusammen um sich gemeinsam in dieser Welt zu behaupten. Mein liebes Mädel, ich liebe Dich von ganzem Herzen, und weiß, dass nur wir zusammen gehören. Sei vielmals gegrüßt und herzlich geküsst von Deinem Wolfgang
Stuttgart, den 16. 10. 53, Mein lieber Wolfgang!
... Du, ich bin Dir ja so dankbar, dass Du mir so offen über Deine innerlichen Nöte schreibst. Ich kann Dir gut nachfühlen, wie Dir während dieser Tage zumute war, soweit das eine Frau überhaupt nachfühlen kann. Ach, ich bin ja so froh und dankbar, dass Du über diese Versuchung Herr geworden bist, und ich will für Dich beten, dass Gott Dir immer neue Kraft gibt. Wenn es wieder über Dich kommt, dann schreibst Du mir, und dann will ich versuchen, Dir zu helfen. Ich habe Dich ja so lieb! Für heute lass Dich tausendmal herzlich küssen und Dir’s gut gehen! Deine Diethild
Berlin, den 22. 10. 53, Geliebtes Mädel!
... Dienstag schnitt ich mit Ingrid Tonbänder für den Tanztee morgen Abend. Dabei meinte sie, ich würde wohl nicht alleine mit einem Mädel tanzen gehen. Ich erzählte, dass ich es in Westdeutschland schon getan habe, worauf sie staunte. Ich habe jetzt das Gefühl, dass ich ihr nicht gleichgültig bin. Ich benehme mich korrekt und aufmerksam wie jedem Mädel gegenüber, glaube aber, dass das auch schon genügt. Kannst Du mir einen Rat geben? Du weißt doch besser mit dem Innenleben verliebter Mädchen Bescheid. ...
Mein Mädel, Du weißt, wie sehr ich Dich liebe. Sei von Herzen gegrüßt, Dein Wolfgang
Stuttgart, 25. 10. 53, Mein lieber, lieber Wolfgang!
... Wenn Ingrid jetzt anfängt, Feuer zu fangen, ist die Sache schon schlechter. Aber ich glaube, man kann sie nicht davon abbringen, solange sie glaubt, Du seist noch „zu haben“. Einerseits ist es ja dumm, wenn Du es ihr sagen musst, aber ich sehe keine andere Lösung, als ihr Klarheit zu schaffen. Trotzdem musst Du selbst am besten wissen, ob es wirklich schon gefährlich ist bei ihr. Wenn sie nämlich nur kameradschaftlich zu Dir steht, verletzt Du sie, wenn Du ihr andere Gefühle „unterschiebst“. ... Nun sei recht herzlich gegrüßt und mit guten Wünschen berieselt, In Liebe, Deine Diethild
Berlin, den 31. 10. 53, Mien seute Deern!
... Ingrid gegenüber konnte ich jetzt ein wenig Klarheit schaffen. Ich ging mit ihr in die Oper (Orpheus und Eurydike – wie gerne wäre ich mit Dir gegangen!). Auf dem Heimweg sagte ich: „Ihr nehmt diese Dinge zu ernst. Ich habe in der letzten Zeit etwas mehr mit dir unternommen, als mit den anderen. Wenn Du das aber ernst nimmst, muss ich damit aufhören“. Da bräuchte ich keine Angst zu haben, war ihre Antwort.
Der Klatsch des Arndtkreises spricht von dem „Verhältnis“ zwischen Ingrid und mir. Die Sache kommt von zwei Arndtkreismädeln, die sich so dämlich benahmen, dass Klaus sie rausschmiss. Ich werde die beiden mal etwas bezirzen. Sei ganz herzlich gegrüßt und in Liebe geküsst, Dein Wolfgang
Stuttgart, den 4. 11. 53, Mein lieber Freund!
... Weißt Du, ich glaube, es ist nicht die richtige Art, Mädchen erst weich und dann zu Pfadfinderinnen zu machen. Wenn das so ist, will ich nie eine gewesen sein, weil dieses programmmäßige „Becircen“ in meinen Augen eine unlautere Sache ist. Du weißt, ich will gar nicht, dass Du Dein Dasein irgendwie mönchisch führst. Aber ich finde, es ist nicht Deine Aufgabe als Pfadfinder, derart Anhänger für die Pfadfinderei zu suchen. Vielleicht sehe ich die Dinge auch etwas sehr krass, aber ich kann ja nur nach Deinen Briefen und nicht nach meinem Urteil gehen. Also schreib mir doch bitte, wenn es nur halb so gefährlich ist, damit ich mich nicht unnötig zermartere. ... Nun viele herzliche Grüße und Wünsche an Dich, mein Lieberle, Deine Diethild
Berlin, den 6. 11. 53, Meine liebe Diethild!
... Meinst Du wirklich, es entspricht auch nur im Geringsten unserer Art, Mädel zu becircen, um sie zu Pfadfinderinnen zu machen? Wenn Du das allen Ernstes aus meinen Briefen heraus gelesen hast, muss ich mich dümmer ausgedrückt haben, als die Polizei erlaubt!
Zwei Dinge haben wir allerdings schon immer mit den Tanzstunden verfolgt:
a) Unseren Jungen anständige Mädel zu zeigen, weil sie sonst kaum Gelegenheit haben, sich um die Geschöpfe mit den langen Haaren zu kümmern.
b) Den Mädchen den pfadfinderischen Gedanken nahe zu bringen, weil wir der Ansicht sind, dass unser Volk auch solche Frauen braucht, die nicht bloß in einem lahmen Bibelkreis aufgewachsen sind.
Gerade mit dieser Haltung würde es sich aber nicht vertragen, wenn wir den Mädchen den Kopf verdrehten. Ich glaube, es ist auch deutlich aus meinen Briefen hervor gegangen, dass ich, wo Ansätze davon auftraten, mich stets bemüht habe, ganz schnell zu bremsen. Entschuldige bitte diese klaren Worte, die meiner Liebe zu Dir keinen Abbruch tun sollen.
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