Herr Gutermann?
Manuels Gedanken flogen umher.
Was soll das für ein Buch über mich sein?
Er legte den fast leeren Teller auf den Boden, schmierte sich die Finger an der Hose ab und griff nach dem blauen Einband. Sichtlich irritiert blätterte er darin herum.
Fein chronologisch sortiert war dort alles über seine Geburt, seine Kindheit, seine Jugend und sein Studium zu lesen. Manche Absätze erinnerte er zunächst nicht. Dann wurde ihm aber wieder bewusst, dass sich die beschriebene Situation genau so zugetragen hatte. Es stimmte alles, was dort stand: Wie seine Mutter eine lange geplante Dienstreise nach Japan abgebrochen hatte, um ihren kranken Sohn zu pflegen. Und wie ihn sein Vater oft mit ins Atelier genommen hatte, um ihm sein neuestes Werk zu zeigen. Manuels Magen drehte sich um.
Er blätterte hastig im Buch zurück. Natürlich stand dort auch das Kapitel mit der Glockenfabrik.
Manuel wurde wütend.
Er zog an den Seiten und versuchte, sie herauszureißen. Aber das Papier erwies sich als überaus widerstandsfähig. Er konnte ziehen und reißen, wie er wollte, die Seiten blieben im Buch. Dann schrie er und warf es auf den Boden. Ihm kamen die Tränen. Er versuchte, sie zurückzuhalten, hielt den Kopf hoch, damit sie ihm nicht die Wangen hinunterliefen. Ohne Erfolg. Er atmete zwei, dreimal tief ein und aus und blickte zum Buch, zu seinem Buch, das noch immer auf dem Boden lag.
Vielleicht steht da noch mehr über mich drin? Etwas, was ich noch nicht weiß?
Manuels Neugierde überlistete seine Wut. Er lief zum Buch und kniete sich hin. Dann griff er danach und beäugte es von allen vier Seiten.
Neugierig blätterte er bis zur Buchmitte weiter.
Dort stand minutiös alles aufgelistet, was er die letzte Nacht und den Morgen über gemacht hatte. Die Liste, die Toastbrote, der Abschiedsbrief. Der Text lief weiter bis zu dem Zeitpunkt, als Manuel an der Klippe stand. Dann brach der Satz ab und die restlichen Seiten blieben leer und weiß. Manuel war nicht mehr irritiert, er war erschrocken.
Was ist das hier für ein Ort?
»Ah, da bist du. Hätte ich mir auch denken können.«
Herr Gutermann war wieder nach Hause gekommen. In seiner rechten Hand hielt er noch seinen hölzernen Stab, in der linken einen blutigen und dreckigen Stofffetzen.
»Wie ich sehe, hast du einige spannende Bücher gefunden. Oder haben sie eher dich gefunden? Wie hast du dich entschieden? Also bezüglich meines Angebots von vorhin? Möchtest du auch einen Tee? Ich setze gleich Wasser auf.«
Manuel hatte kaum Zeit, sich Gedanken zu machen. Herr Gutermann sprach wieder in einem fortlaufenden Schwall.
»Tee? Ich ... ich trinke lieber Kaffee, wenn du einen hast.«
Herr Gutermann schüttelte heftig den Kopf.
»Milch ist für Kälbchen und Kaffee ist für Ziegen. Ich habe nur Tee hier.«
Manuel überlegte kurz, für wen der halb volle Chardonnay und das Bier im Kühlschrank sein könnte und ob er vielleicht statt des Tees ein Gläschen davon bekäme.
Angesichts Herrn Gutermanns ungeduldigen Blicks und des blutigen Stofffetzens in seiner Hand verkniff er sich aber die Frage.
»Ja, gern dann den Tee. Dein Angebot, ... du hast doch gesagt, dass ich eh keine Wahl habe. Was wäre denn, wenn ich ablehne?«
»Nun, dann müsste ich dir das Buch abnehmen, das du gerade so fest umklammerst und es in meinen Kamin schmeißen. Und glaub mir: Das willst du noch weniger, als hier vor die Tür gehen.«
Manuel schluckte.
Er musste nun eine Entscheidung treffen. Gerade er musste nun eine Entscheidung treffen. Und dann noch so eine folgenreiche. Das Gute daran war allerdings, dass er sich zwischen einem Spiel und dem sofortigen Tod oder etwas Ähnlichem entscheiden musste. Die Entscheidung fiel daher für Manuel vergleichsweise schnell.
»Nun, ... ich weiß zwar nicht, was mich sonst erwarten würde, aber ja, ich willige ein.«
Das ist doch eh ein Traum, das kann nicht echt sein.
»Perfekt, wunderbar! Ich freue mich! Und Chang’e hatte vorhin noch wetten wollen, dass du das nicht machen wirst. Dann setz dich schon einmal ins Wohnzimmer und ich komme gleich mit dem Tee zu dir.«
Bevor sich Manuel wieder aus der Bibliothek verabschiedete, griff Herr Gutermann mit dem Endstück seines Stabs in ein Regal ganz weit oben und zog ein Buch mit rotem Wachseinband heraus.
»Halt, warte kurz. Bevor du dich ins Wohnzimmer begibst, nimm bitte noch das Buch hier mit. Wärst du so lieb?«
Manuel nahm das Buch entgegen, nickte Herrn Gutermann zu und begutachtete die Vorderseite: Celeste Mamani.
»Was ist das? Wer ist das?«
»Das erzähle ich dir schon noch, sei nicht so neugierig. Bis gleich!«
Keine fünf Minuten später kam Herr Gutermann ins Wohnzimmer, setzte sich neben den ungläubig wirkenden Manuel auf die Bank und nahm ihm das Buch aus den Händen.
»Also, wir beginnen morgen mit unserem Spiel und hier haben wir die erste Person, Celeste. Wir starten mal ohne großes Tamtam und Drumherum, was meinst du?
Ich werde dir ein paar Informationen zu Celeste erzählen und dann trinkst du deinen Tee. Alles andere wirst du entweder vor Ort verstehen oder wir sprechen dann morgen Abend darüber. In Ordnung? Wie gesagt, du kannst die Handlungen vor Ort nicht beeinflussen, aber als Manuel denken, riechen, schmecken, das kannst du schon noch.«
»In Ordnung, denke ich zumindest. Also, wer ist diese Celeste Mamani?«
Manuel war sichtlich angefixt. Er war sich immer noch sehr sicher, in einem Traum zu sein. Oder vorhin doch gesprungen und nun wo ganz anders zu sein.
»Celeste ist auch 39 Jahre alt, so wie du. Sie ist ... ihr Weißen nennt sie, glaube ich, Indigene. Also, sie ist eine indigene Bewohnerin von einem wirklich süßen Dorf in den Anden. Im Altiplano. Wo genau ist erst einmal egal. Und sie ist, ich würde sie als die Madonna der Indigenen dort bezeichnen. Oder als deren Greta Thunberg, Ja, ich glaube, das passt besser. Sie ist ein richtiger Star, weil sie so viel beim Umweltschutz erreicht hat.«
Herr Gutermann blätterte im Buch mit dem roten Wachseinband und stoppte auf der vorletzten Seite.
»Schau, hier ist eine Karte der Gegend. Das hier ist ihr Dorf, das liegt sehr nett auf einer Insel zwischen zwei großen Flussarmen. Und das hier alles, das steht dank Celeste seit Neuestem unter Schutz. Hat sie und das Dorf über Nacht bekannt gemacht, auch über die Landesgrenzen hinweg. Die Medien lieben sie und jeder im Dorf auch. Die ist ein richtiges Energiebündel, hat ordentlich Feuer unterm Arsch. Startet jeden Tag ein neues Projekt, so ungefähr.
Ich glaube, Celeste kann für dich ganz interessant sein. Du brauchst dir auch keine Sorgen machen, was mögliche Sprachprobleme betrifft. Du verstehst alles. Hast du noch Fragen? Nein? Dann trink schön den Tee und schlaf gut!«
Manuels Kopf brummte.
Natürlich hatte er Fragen. Unmengen an Fragen. Die erste Frage wäre gewesen, warum Herr Gutermann ihm überhaupt half. Ob er ihm half. Die ganzen Informationen aber, dieses absurde Spiel von diesem Herrn Gutermann, die Parkbank zwischen den Bäumen, die unsichtbare Glocke, die er vorhin noch gespürt hatte und das Buch, das war für ihn alles zu viel auf einmal gewesen. Also trank er widerstandslos den Tee und schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen erwachte er nicht auf der Parkbank zwischen den Bäumen.
Er erwachte auch nicht in seiner Wohnung in der Nähe der windgepeitschten Klippen.
Er erwachte in Bolivien, auf 3800 Meter Höhe.
Montag:Celeste , Agua Huta
Genauer gesagt erwachte er in einem kleinen gemauerten Haus am Rande des Dorfes Agua Huta. Im Haus von Celeste Mamani und ihrer Mutter Cristina.
Das Haus stand direkt neben einem kleinen Supermarkt und verfügte über einen Garten mit Hühnern und einen Acker zur Selbstversorgung.
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