In meinem Zimmer dachte ich über den Tag und ihre lobenden Worte zum Abschied nach. Nicht nur das viele interessante Gesehene und das umfangreiche Wissen dieser kultivierten Frau hatten mich beeindruckt, sondern noch viel mehr ihre hinreißende Persönlichkeit. Ich freute mich, sie noch heute Abend und an den nächsten Tagen beim Symposium wiedersehen zu können. Noch nie in meinem Leben war ich einer derartigen Frau begegnet und in mir kam der brennende Wunsch auf, ihr näher zu kommen, wenn sich eine Möglichkeit dafür ergeben würde.
Da ich mit solcher Einladung gerechnet hatte, hatte ich einen guten Anzug, ein weißes Hemd, dunkle Schuhe und eine Krawatte eingepackt. Ich ruhte mich eine Weile von dem ereignisreichen Tag aus und immer wieder stand mir diese aufregende Frau vor Augen. Hatte ich mich in sie verliebt? Das wäre zwar nicht das erste Mal, aber eine Frau dieser Klasse war mir noch nie begegnet. Nun, ich würde sehen, was daraus wird. Ich zog mich um und schaute noch einmal in meine Aufzeichnungen über die chinesische Medizin, um für ein Gespräch ein bisschen gewappnet zu sein.
Pünktlich um 18:45 stand ich am Eingang und brauchte nicht lange zu warten, bis Frau Ziyang eintrat, ihr Anblick verschlug mir den Atem. Sie trug ein knöchellanges, tief ausgeschnittenes dunkelblaues Abendkleid ohne Ärmel mit Spitzenbesatz am Oberteil und einem langen Schlitz, der beim Gehen ihr linkes Bein bis zur Hüfte freigab. An den Füßen prangten hochhackige goldfarbene Slipper. Um den Hals trug sie eine goldene Kette und das dunkle Haar fiel ihr jetzt in langen Locken bis auf den Rücken. Am rechten Arm prangte ein Goldreif mit ähnlichen chinesischen Zeichen wie auf dem Fingerring. Ich musste mich zusammenreißen, um ihr meine Begeisterung nicht offen zu zeigen. „Gehen wir?“, fragte sie nur kurz und ich begleitete sie zum Wagen. Immer wieder musste ich sie verstohlen vom Beifahrersitz anblicken, doch sie wandte den Kopf nicht von der Straße.
Nach 15 Minuten hielten wir vor einem vornehm aussehenden Restaurant, stiegen aus und ein Diener fuhr den Wagen weg. Höflich reichte ich meiner Begleiterin den Arm und anstandslos ließ sie sich von mir in den Gastraum führen, wo wir an einem Tisch von Dr. Saurach, einem anderen Herren und zwei Chinesen erwartet wurden. Er begrüßte mich freundlich, nachdem Frau Ziyang uns bekannt gemacht hatte, dann stellte er uns die beiden chinesischen Wissenschaftler vor, die das Symposium durchführen sollten, und den anderen Herrn als Präsident der Berkeley University. Meine Begleiterin ließ es sich nicht nehmen, ein paar Worte auf Chinesisch mit den Gästen zu wechseln. Bei einem vorzüglichen Menü erläuterte Dr. Saurach den beiden, warum er ihrer Medizin eine Pforte in der Public Health öffnen wollte und wie sehr er darauf vertraute, dass es ihnen gelänge, seine Mitarbeiter von dem großen Potential dieser Heilkunst zu überzeugen.
Nach dem Essen führte er uns in die Bar und stieß mit uns mit einem Cognac auf das Gelingen des Symposiums an, verschwand aber bald mit den Gästen. Frau Ziyang schaute mich an und fragte: „Wollen Sie auch schon gehen?“ Erfreut entschied ich mich, noch eine Weile die Gesellschaft dieser bezaubernden Frau zu genießen. Da glitt ein Lächeln über ihr Gesicht und sie sagte so leise, dass nur ich es hören konnte: „Das freut mich, denn ich finde Sie nett und bin gern mit Ihnen zusammen.“ Als ich ehrlich antwortete, dass es mir genauso gehe, beugte sie sich vor und drückte mir einen leichten Kuss auf die Wange. Glücklich wollte ich sie auf die Lippen küssen, doch sie zog ihren Mund weg und bot mir nur die Wange, dazu sagte sie leise: „Bitte nicht ganz so schnell, wir kennen uns doch erst seit zwölf Stunden.“ Ich bat sie um Entschuldigung, worauf sie nur lächelnd „Geduld“, sagte.
Nach einer halben Stunde hatten wir den zweiten Cognac ausgetrunken und Frau Ziyang meinte, wir sollten jetzt aufbrechen, denn morgen gehe die Arbeit los, sie würde mich um 8:30 abholen. Gehorsam folgte ich und sie fuhr uns wortlos zum Gästehaus. Als ich dankbar sagte, wie schön ich diesen Tag mit ihr erlebt hätte, zog sie plötzlich meinen Kopf zu sich heran und ich fühlte ihre Lippen auf meinen, dann sagt sie leise: „You are a good boy.“ „And you are an exciting woman“, antwortete ich, denn ich empfand sie wirklich als aufregende Frau. Da strich sie mir über die Wange, drehte sich um und war verschwunden. Noch lange lag ich im Bett und dachte über diese aufregende Frau nach. „Guter Junge“ hatte sie mich genannt, aber ich hätte liebend gerne gewusst, ob das „You“ noch „Sie“ oder schon „Du“ bedeutete. „Verdammtes Englisch“ dachte ich, anscheinend war ich ihr ebenso wenig gleichgültig wie sie mir, aber wir mussten uns Zeit lassen. „Geduld“, hatte sie gesagt, die wollte ich gerne aufbringen, doch ich wagte noch nicht, mir etwas mehr mit dieser Frau vorzustellen.
Sie wäre ja nicht meine erste Beziehung, die dritte hatte ich erst vor einem halben Jahr beendet. Bianca war eine fantastische Liebhaberin, aber persönlich vollkommen hektisch. Sie arbeitet als Disponentin in einer Logistikfirma und musste ständig erreichbar sein, sodass auch abends und am Wochenende Anrufe und Mails auf ihrem Handy landeten. Offensichtlich war sie stark überfordert, denn sie rauchte wie ein Schlot, bis zu 20 Zigaretten täglich. Die Wohnung und Kleidung stanken nach Rauch und ihre Küsse schmeckten ebenso. Als ich in der Klinik gefragt wurde, ob ich das Rauchen angefangen hätte, reichte es mir. Ich empfahl ihr Medikamente zur Entwöhnung, doch sie lehnte ab, ohne das Rauchen könne sie nicht leben. Da eröffnete ich ihr bei einem Abendessen, dass ich mich von ihr trennen würde. „Bleib‘ noch die Nacht bei mir“, bat sie mit Tränen in den Augen und wir hatten ein letztes wundervolles Miteinander. Doch danach stand ich auf, küsste sie zum letzten Mal und ging. Bisher habe ich sie nicht wiedergesehen.
Dienstag saß ich noch beim Frühstück, als Frau Dr. Ziyang sich zu mir setzte und eine Tasse Kaffee bestellte, sie war ebenso gekleidet wie gestern am Tag und hatte ihre Haare auch wieder in einem Zopf gebändigt. Sie freue sich, mich zu sehen, sagte sie und wollte wissen, ob ich gut geschlafen hätte. Als ich das bejahte und ihr dieselbe Frage stellte, sagte sie plötzlich: „Mein Vorname ist Li-Ming, das bedeutet ‚Die Strahlende‘ und ich denke, wir kennen uns inzwischen gut genug, dass wir die förmliche Anrede lassen können.“ Da es in Amerika üblich ist, sich mit dem Vornamen zu siezen, wusste ich immer noch nicht, wie persönlich diese Worte gemeint waren, doch brav nannte ich meinen Vornamen Reinhard und buchstabierte ihn. Da spürte ich plötzlich ihre Zunge auf meinen Lippen.
Diesmal wollte ich mich nicht damit zufriedengeben und stieß ihr meine Zunge zwischen die Lippen, die sie willig öffnete und mit ihrer Zunge antwortete, doch dann gab sie meinen Mund frei und sagte: „Please be patient, we have to drive, otherwise we will be late.“ Immerhin war mir klar, dass wir jetzt wohl beim „Du“ angekommen waren und dass ein Mehr anscheinend denkbar war, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie es weitergehen würde. Ich konnte nur auf den Abend warten, denn inzwischen hatten wir das Vorlesungsgebäude erreicht und mussten bald in einiger Entfernung voneinander sitzen, sie am Vorstandstisch und ich im Hörsaal bei den Zuhörern.
Nach der Begrüßung der Teilnehmer und einem Dank, dass sie sich für dieses Symposium Zeit genommen hätten, stellte Dr. Saurach die beiden chinesischen Wissenschaftler als bekannte Professoren der TCM-Universität in Peking und ausgewiesene Experten auf dem Gebiet der weltweit bekannten chinesischen Heilkunde vor. „Als Ärzte und Medizinwissenschaftler haben wir die Plicht, unseren Patienten die besten Möglichkeiten zur Heilung ihrer Leiden zu bieten und dürfen kein Teilgebiet nur deshalb ignorieren, weil unsere Ausbildung es uns nicht nahegebracht hat oder es aus einem anderen Erdteil kommt. Deshalb habe ich diese beiden Herren gebeten, uns einen Einblick in ihr Fachgebiet zu geben.
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