Ich war 1983 zu DDR-Zeiten in der Universitätsstadt Leipzig geboren worden, aber da ich erst drei Monate vor der Wende in die Schule kam, blieb mir die sozialistische Erziehung erspart, die meine Eltern erdulden mussten. Allerdings hatte diese Erziehung bei ihnen keine große Wirkung gezeigt, als Ärzte konnten sie sich von der Partei weitgehend fernhalten und mir ihre Ablehnung des Regimes vorsichtig vermitteln. Der Schulunterricht entwickelte sich zunächst chaotisch, weil viele Lehrer radikal umdenken oder die Schule verlassen mussten. Erst nach einem Jahr konnten wir endlich etwas Vernünftiges lernen. Meine Eltern hatten in einer in der DDR üblichen Poliklinik praktiziert, die Mutter als Internistin mit dem Spezialgebiet Kardiologie, der Vater als Gynäkologe. Bald nach der Wende hatten sie eine Gemeinschaftspraxis eröffnet und durch ihr Beispiel war für mich klar, dass ich auch Arzt werden wollte. Ich strengte mich in der Schule an und machte ein sehr gutes Abitur, das mir das Medizinstudium ermöglichte.
Praktikum und Studium absolvierte ich an der Charité in Berlin und belegte dabei zusätzliche Seminare in Traditioneller Chinesischer Medizin, die in Berlin ausführlich angeboten wurde. Mit 29 war ich Kardiologe wie meine Mutter und promovierte anschließend mit einer Vergleichsstudie über die Erfolge der chinesischen und westlichen Heilkunde bei Erkrankungen der Herzkranzgefäße. Doch nach dem Studium wollte ich wieder zurück nach Leipzig und nahm eine Stelle als Assistenzarzt am Uniklinikum an, wo ich schnell avancierte und kürzlich mit 36 Jahren Vertreter des Stationsarztes der Kardiologie wurde. Da konnte ich mir die Dreizimmerwohnung am Elsapark in der Neustadt leisten, nur 2 km von der Uni entfernt. Und nun kann ich zum ersten Mal die Früchte meines Zusatzstudiums ernten!
Ich wusste, dass ich für die USA ein Visum online bestellen kann und stellte auf der Webseite einen Antrag auf eine US-ESTA-Reisegenehmigung. Ich musste ein umfangreiches Formular ausfüllen und die Kreditkarte angeben, von der die Gebühr abgebucht wird. Nach zwei Tagen sollte ich eine Bestätigung über das erteilte Visum bekommen, das bei der Einreise in den Pass eingetragen wird. Anschließend ging ich ins Sekretariat, um die Reise anzumelden und die Flüge buchen zu lassen. Man fand einen Hinflug am 7. April morgens mit Umstieg in Frankfurt und ich sollte wegen der neunstündigen Zeitdifferenz noch am selben Mittag in San Francisco eintreffen. Der Rückflug am Samstagmittag würde erst Sonntag früh in Frankfurt eintreffen und kurz danach könnte ich nach Halle-Leipzig weiterfliegen. Nachmittags nannte mir der Chef das Gästehaus der Uni, in dem sein Freund mir ein Zimmer für sechs Nächte gebucht hatte.
Ich hatte im Studium etwas über die verschiedenen Fachrichtungen der Chinesischen Medizin, gehört und mich vor allem mit der Kräuterheilkunde – auch Arzneimitteltherapie genannt – und den ihr zugrunde liegenden Kenntnissen der Auswirkungen im Körper beschäftigt. Jetzt war ich gespannt, welche Fachrichtung im Symposium behandelt würde, und bat den Dekan, seinen Freund fragen zu dürfen. Er fand die Idee gut und gab mir bereitwillig die Mail-Adresse. Der Mann antwortete schnell, es würde vor allem um die Arzneimitteltherapie mit uralten chinesischen Heilmitteln gehen. Jetzt wusste ich Bescheid und fand in meinen Dissertationsunterlagen viele Einzelheiten zur Anwendung der Heilmittel bei verschiedenen Erkrankungen.
Weil mir die Zeit fehlte, mich näher damit zu beschäftigen. schob ich mir nur allerlei Notizen auf das Tablet, um sie während des insgesamt über dreizehnstündigen Fluges zu lesen. Und um nicht vollkommen unbeleckt da zu stehen, suchte ich nach Informationen über die Berkeley University. Diese Uni ist riesengroß mit 125 Studiengebieten von Sprachen über Physik, Chemie, Biologie, Mathematik, Ingenieurwissenschaften und Jura bis zur Musik und Kunstgeschichte. Eine große Fakultät mit zweihundertfünfzig Fachgebieten ist Public Health. Dort gibt es bisher keine Richtung der Chinesischen Medizin, anscheinend will man sich hierin erweitern. Dass ich nichts über ein zugehöriges-Klinikum fand, wie es in Deutschland der praktischen Ausbildung zum Arzt dient, wunderte mich, aber die Bibliothek mit 700.000 Büchern beeindruckte mich.
Am 7. April war ich pünktlich um halb sieben am Flughafen und kam problemlos nach Frankfurt. Nach intensiven Prüfungen durch die Amerikaner dauerte es dort eine gute Stunde, bis es mit leichter Verspätung weiter ging. Um 13 Uhr erreichte der Flieger San Francisco, wo ich noch einmal durch die Mühlen der Papiere gedreht wurde. Ich wunderte mich, dass es draußen gar nicht dunkel wurde, obwohl meine Uhr schon 22 Uhr anzeigte, doch dann fiel mir die Zeitdifferenz von neun Stunden ein. Immerhin hatte ich viel Zeit gehabt, während des Fluges meine Unterlagen zu studieren und mich auf den Besuch vorzubereiten, wenn es nicht gerade etwas zu essen gab.
Am Gate erwartete mich ein Fahrer der Universität und brachte mich in einer halben Stunde zum Gästehaus in Berkeley, wo ich ein vorzüglich eingerichtetes Zimmer vorfand und gleich ins Bett fiel. Auschecken, Passkontrolle und Fahrt hatten zwei Stunden gedauert und ich war hundemüde. Um 20 Uhr Ortszeit wachte ich hungrig auf und ging etwas essen, danach brauchte ich eine Weile, um wieder einzuschlafen. Gegen 5 Uhr war ich hellwach, da war es in Deutschland schon zwei Uhr mittags. Bis sieben blieb ich noch liegen, dann stand ich auf, machte mich fertig und genoss ein gepflegtes Frühstück.
Um 9 Uhr stand eine junge Asiatin an meinem Tisch und reichte mir freundlich die Hand. Sie stellte sich als Dr. Li-Ming Ziyang vor und wollte mich zur Besichtigung der Fakultät abholen. Ich war froh, dass ich gut Englisch konnte und dadurch im Gespräch mit ihr keine Probleme hatte. Die Frau gefiel mir, sie hatte ein hübsch geschnittenes fröhliches Gesicht, war groß und schlank mit kleinen Brüsten und bei näherem Hinschauen nicht so jung, wie ich sie zunächst eingeschätzt hatte, sondern wohl nur etwas jünger als ich. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie links in einem Zopf gebündelt, bekleidet war sie mit einem roten Hosenanzug, dessen Oberteil eine vorn hochgeschlossene Bluse bildete, und gleichfarbigen Slippern. Am rechten Ohr trug sie einen langen goldenen Hänger mit einem großen Stein, der wie ein Rubin aussah und auf dem linken Ringfinger einen breiten Goldring mit chinesischen Schriftzeichen. Sie setzte sich mit an den Tisch und bestellte sich auch eine Tasse Kaffee, dann gab sie mir einen ersten Überblick:
„Die Public Health Fakultät der Berkeley University ist führend in vielen medizinischen Bereichen von der Ernährung und Epidemiologie über Infektionskrankheiten bis zur Humangenetik, Chirurgie und Orthopädie. Sie ist eine reine Hochschule ohne klinischen Bereich. In enger Zusammenarbeit mit der University of California in San Francisco ist ein gemeinsames Studienprogramm entstanden. Es beginnt mit zweieinhalb Jahren an der UC Berkeley, wo die Studenten die grundlegende naturwissenschaftliche Komponente ihrer medizinischen Ausbildung abschließen und gleichzeitig einen Master of Science in Gesundheits- und Medizinwissenschaften erhalten. Anschließend immatrikulieren sie sich an der School of Medicine der University of California in San Francisco für zweieinhalb Jahre klinisches Referendariat. Am Ende dieses 5-Jahres-Programms absolvieren die Studenten einen MD der UCSF und einen MS der UC Berkeley. Ich leite an einer der Kliniken die internistische Station und begleite die notwendigen Praktika für werdende Ärzte. Daneben halte ich Seminare an der Public Health. Und nun sagen Sie mir bitte, was ich Ihnen heute zeigen darf, ich stehe Ihnen den ganzen Tag zur Verfügung. Am Abend sind wir von Dr. Saurach zum Essen mit den chinesischen Spezialisten eingeladen.“
Ich hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, was ich sehen wollte, freute mich aber, den ganzen Tag mit dieser aufregenden Frau zusammen zu sein, und musste überlegen, was mich besonders interessieren könnte. „Ich würde gerne eine Vorlesung in Anatomie hören und einen Blick in die berühmte Bibliothek der School of Public Health werfen. Danach könnten Sie mir bitte Ihre Station zeigen, damit ich weiß, wie eine Klinik bei Ihnen aussieht“, begann ich langsam, wobei meine Gedanken Karussell fuhren. „Dafür werden wir am Nachmittag nach Frisco hinüberfahren, wenn wir noch genug Zeit haben“, erwiderte meine Begleiterin, „jetzt bleiben wir erstmal hier in Berkeley.“
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