Mit ihrem uralten VW Käfer fuhren wir in fünf Minuten zum Vorlesungsgebäude, wo sie mich auf verschlungenen Gängen in einen Raum führte, in dem zehn Student/innen um einen Tisch herumstanden, auf dem ein toter weiblicher Körper lag. Unter Anleitung einer Dozentin war gerade eine Studentin dabei, mit einem Skalpell den Bauch aufzuschneiden. Nach einem kurzen Gespräch mit der Dozentin flüsterte Frau Ziyang mir ins Ohr: „Die Frau ist wahrscheinlich am Dickdarmkrebs gestorben und die Familie hat den Körper der Uni zur Verfügung gestellt, um Gewissheit zu bekommen. Er darf dann auch für weitere Studien benutzt werden.“
Als der Bauchraum geöffnet war, beauftragte die Dozentin einen Studenten, den Dickdarm der Toten vorsichtig freizulegen, aber möglichst nicht zu berühren. Mittels der über dem Seziertisch angebrachten Kamera konnten alle auf einem großen Bildschirm genau sehen, wie es in dem Bauch aussah und wie der junge Mann die Därme vorsichtig zur Seite legte. Als er den Dickdarm gefunden hatte, richtete die Dozentin die Kamera darauf aus und vergrößerte den Ausschnitt, sodass alle die Krebswucherungen darauf erkennen konnten. „Eindeutig ein schweres Carcinoms, an dem die Frau gestorben ist“, bestätigte sie den Verdacht der Todesursache.
Dann beauftragte sie eine andere Studentin, die Därme vorsichtig heraus zu nehmen und neben dem Körper auszubreiten. „Bitte benennen Sie jetzt die einzelnen Darmsegmente“, forderte sie das Auditorium auf und die Studenten überboten sich darin, die auf der Bildwand dargestellten Segmente zu benennen. „Hat eigentlich jemand von Ihnen bemerkt, dass die Tote schwanger ist?“, fragte die Dozentin lächelnd und alle wunderten sich, ich hatte es auch nicht gesehen. Die Dozentin beauftragte eine Studentin, den Uterus der Toten vorsichtig aufzuschneiden und ein winziger Fötus kam zum Vorschein. „Schätzungsweise sechste Woche“, verkündete die Dozentin, „die Frau muss es noch nicht gewusst haben, wahrscheinlich hat ihr Blinddarmproblem sie zu sehr beschäftigt. Jetzt müssen wir ihre Familie über die Todesursache und Schwangerschaft informieren.“
Ich hatte genug gesehen und bat meine Begleiterin, mir noch eine Vorlesung über mein Fachgebiet Kardiologie zu zeigen, falls gerade eine lief. Sie informierte sich und führte mich dann in eine Vorlesung mit einem Film über die Behandlung verengter Herzkranz-Arterien mittels eines in die Oberschenkel-Arterie eingeführten Katheders. Das war mir nicht neu, wir machten es ebenso. Aber dann sah ich, dass die verengten Gefäße nicht, wie bei uns mit einem Ballon, sondern durch eine winzige Mechanik aufgeweitet werden, das kannte ich nicht und folgte interessiert dem Film. Anschließend ließ ich mir diese Mechanik zeigen und erkundigte mich nach Möglichkeiten, sie zu beziehen.
Anschließend gingen wir zur Bibliothek und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als ich den riesigen Lesesaal und die Wände voller Bücher bewundern durfte. Ein etwas genauerer Blick auf die Regale zeigte mir, dass wirklich jedes Teilgebiet der Medizin hier ausführlich dokumentiert ist. Als ich Näheres über die Geschichte wissen wollte, wies sie mich auf einen Aushang:
„Seit Gründung der School of Public Health im Jahr 1944 wurde die Bibliothek aufgebaut, sie umfasst heute mehr als 700.000 Druckbände und 8.000 Zeitschriftenabonnements sowie eine Sammlung seltener Bücher von 6.000 Bänden. Neben dem Druckmaterial haben Bibliotheksbenutzer Zugriff auf eine elektronische Sammlung mit mehr als 830.000 Büchern und 72.000 Zeitschriften. Die Public Health-Sammlung ist in allen Bereichen der öffentlichen Gesundheit, der Ernährung in Bezug auf Gesundheit und Krankheit, der Epidemiologie, der Toxikologie, der betrieblichen Gesundheit, der Gesundheit von Mutter und Kind, übertragbarer Krankheiten und der Umwelt sowie der globalen Gesundheit bestens ausgestattet.“
Als meine Begleiterin mich nach einer ganzen Weile aus meinem Staunen weckte, hatte ich noch lange nicht genug gesehen und lobte sie für diesen Schatz, der die medizinische Bibliothek in unserer Uni armselig aussehen ließ. „Darf ich Sie in die Mensa einladen?“, fragte sie und ich nahm die Einladung gerne an. Die Mensa war der Bibliothek angegliedert und bot eine gute Auswahl an Gerichten, aber nur alkoholfreie Getränke. Meine Begleiterin wählte gegrilltes Lachsfilet und empfahl es mir auch, das sei hier besonders gut. Es schmeckte vorzüglich und beim Essen berichtete sie mir ein wenig von ihrer Geschichte. Sie war 1984 in China geboren und aufgewachsen, dann aber zum Studium in die USA gekommen und danach hiergeblieben. Inzwischen sei sie eingebürgert und habe eine unbegrenzte Lehrerlaubnis. Ihre Eltern lebten weiter in China, der Vater sei Professor an der Basic Medical School der Universität in Wuhan und die Mutter arbeite als Ärztin in der zugehörigen Klinik. Meine Frage, ob sie Familie habe, verneinte sie lächelnd mit den Worten: „Ich hatte noch keine Zeit dafür, aber was nicht ist, kann ja irgendwann werden.“ Ich freute mich darüber, denn diese flotte junge Frau war mir seit heute früh immer sympathischer geworden.
Doch ich wollte noch etwas wissen: Beim Plumpudding fragte ich sie, ob sie sich schon mit der chinesischen Medizin beschäftigt habe. Lachend antwortete sie: „Ich bin eine geborene Chinesin und meine Eltern praktizieren dort beide in der medizinischen Lehre. Dadurch habe ich diese Art von Medizin schon mit der Muttermilch aufgesogen und mich ständig damit beschäftigt. Leider hält man hier im Westen nicht viel von dieser heilbringenden Fachrichtung, im Studium habe ich hier in San Francisco nicht die Bohne davon gehört. Zum Glück konnte ich Dr. Saurach dafür interessieren und wir haben gemeinsam das Symposium in die Wege geleitet. Ich bin gespannt, wie das bei meinen Kollegen ankommt und freue mich, dass Sie dazu eingeladen wurden.“
Nach dem Espresso sagte Frau Ziyang mit ihrer angenehmen Stimme: „Dann lassen Sie uns zur Klinik aufbrechen“, doch ihr Wagen ließ sich nicht starten. Ich hatte früher einen ähnlichen Wagen und ahnte, woran es liegen könnte. Als ich die Motorklappe öffnete, bestätigte sich mein Verdacht, am Verteiler hatte sich der Deckel gelöst. Als ich ihn wieder draufstecken wollte, ließ er sich nicht richtig befestigten, doch es gelang mir provisorisch und der Motor ließ sich starten. Ich empfahl meiner Führerin, möglichst bald eine Werkstatt aufzusuchen. Dann fuhren wir ein Stück am Wasser entlang und über eine lange Brücke mit zwei übereinander liegenden Fahrbahnen nach San Francisco hinein.
Im Klinikum stellte Frau Ziyang mich dem Chefarzt vor, der mich wenig beeindruckte, dann führte sie mich in ihre Station, die nicht wesentlich anders aussah als in meiner Klinik. Die Krankenzimmer waren etwas komfortabler eingerichtet, der CT war hochmodern und der Behandlungssaal wies erheblich mehr Instrumente und Anzeigegeräte auf als bei uns. Bei einer Patientin wurde gerade eine Rektoskopie unter Betäubung durchgeführt. Vor allem hatte ich den Eindruck, dass mehr Pflegepersonal zur Verfügung stand als in Deutschland, und das Bereitschaftszimmer war gemütlicher eingerichtet. Ich sagte Frau Ziyang meine Beobachtungen und sie freute sich.
Inzwischen war es 16 Uhr, und Frau Ziyang lud mich in der Cafeteria zu einer Tasse Kaffee mit Gebäck ein. „ich kann Sie jetzt nicht nach Berkeley bringen, denn ich will zur Werkstatt und habe auch in meiner Wohnung etwas zu erledigen. Für Ihren Rücktransport organisiere ich einen Wagen und hole Sie um 18:45 ab.“ „Sie wohnen nicht in Berkeley?“, fragte ich erstaunt. „Nein“, erwiderte sie, „da ich viel mehr in der Klinik beschäftigt bin als im Hörsaal, ist die Wohnung hier in Frisco günstiger für mich.“ Dann führte sie mich zu einem Krankenwagen, der vor der Tür wartete und bot mir zum Abschied die Hand, Dabei schaute sie mir in die Augen und ihr Händedruck dauerte länger als üblich. Dieser Blick und der ganze Tag mit dieser Frau beeindruckten mich so sehr, dass ich ihr nach einem Dank für die schönen Stunden einen Kuss auf die Hand drückte. Erstaunt blickte sie mich an, aber dann glitt ein freundliches Lächeln über ihr Gesicht und sie antwortete leise, sie habe es doch auch genossen, einem derart interessierten und versierten Fachmann die UC Berkeley School of Public Health und die UCSF School of Medicine zu zeigen.
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