Tessa setzte das Wasser auf.
„Und wie war dein Tag bisher?“
Bella fing an zu strahlen und holte tief Luft. Das würde also ein längerer Bericht werden.
„Heute wurden in Wirtschaftsinformatik die Referatsthemen verteilt und wir wurden zufällig in Gruppen eingeteilt. Eigentlich hasse ich das ja, wenn ich mit fremden Leuten zusammenarbeiten muss. Aber mir wurde Leo zugeteilt, mit dem ich letztes Semester schon einen gemeinsamen Kurs hatte. Das ist also nicht so schlimm. Eigentlich war das sogar das Beste, was passieren konnte. Und ich glaube, er hat sich auch gefreut, mich als Partnerin zu haben.
Wir haben dann nach dem Kurs noch einen Kaffee getrunken und eine Weile geredet. Dann sind wir darauf gekommen, dass wir sogar gemeinsame Hobbys haben. Wusstest du, dass er auch malt? Er hat mir ein paar seiner Bilder gezeigt, die er auf dem Handy hatte, und die sind richtig gut. Und dann haben wir beschlossen, dass wir uns am Wochenende treffen. Also nicht nur für das Referat, sondern auch um einfach so Zeit miteinander zu verbringen.“
Tessa nutzte die Pause, in der Bella kurz Luft holen musste, um was zu sagen. „Oh wow, das freut mich echt für dich!“ Sie hatte zwar keine Ahnung, wer dieser Leo war, aber als introvertierte Person tat sich Bella oft schwer, neue Kontakte zu knüpfen. Wenn sie also jemanden gefunden hatte, mit dem sie sich gut verstand, dann war das schon mal viel wert.
Außerdem war Bella schon länger Single als Tessa und das wollte was heißen.
„Ja, ich glaube auch, dass das gut wird“, meinte Bella.
Während sie redeten, kümmerte sich Tessa um die Bolognese-Soße. Bella stand daneben und schaute ihr zu.
Sie war keine so gute Köchin wie Tessa, dazu ging sie mit den Gewürzen zu sparsam um. Dafür aber gelangen ihr Süßspeisen immer. Deshalb hatte es sich mit der Zeit etabliert, dass Tessa meistens das Kochen übernahm und Bella dafür gelegentlich süßes Gebäck oder andere Desserts zubereitete.
„Erzähl mal mehr von diesem Leo“, bat Tessa, während sie zwei Knoblauchzehen in feine Stückchen schnitt.
„Er ist eigentlich zwei Semester über mir und belegt Informatik nur als Nebenfach. Im Hauptfach studiert er Elektrotechnik. Und er zeichnet am liebsten mit Kohle, hat aber auch einige digitale Bilder. Hauptsächlich Pflanzen und Landschaften.“
Tessa grinste. Typisch Bella. „Gut zu wissen. Aber eigentlich wollte ich wissen, wie er aussieht.“
„Oh.“ Sie schien kurz zu überlegen. „Er ist viel größer als ich, ich glaube, sogar größer als du. Und weder dünn noch dick. Er sieht halt irgendwie weich aus. Und er hat blonde Haare. Augenfarbe bin ich mir nicht sicher.“
„Klingt gut“, bestätigte Tessa. Nicht ihr Typ, aber zu Bella konnte das durchaus passen. Sie selbst bevorzugte dunkelhaarig. Und Lederjacke …
Etwas zu energisch schütte Tessa die passierten Tomaten in den Topf. Soßenspritzer verteilten sich auf dem Herd.
„Bist du gereizt?“, fragte Bella vorsichtig.
„Nein.“ Doch. „Ich bin nur abgerutscht.“
Sie würde jetzt nicht anfangen, nach nur einer Begegnung von diesem Kerl zu schwärmen. Vor allem wenn er ihr nur zu 50% sympathisch war.
Am nächsten Morgen saß Tessa in der Vorlesung für Kommunikationswissenschaft und versuchte verzweifelt, dem Dozenten zuzuhören.
Doch das war leichter gesagt als getan, wenn ihre Augenlider schwer wie Blei waren – eventuell hatte sie gestern noch viel zu lange mit Bella vorm Fernseher gesessen.
Und wenn es mal klare Gedanken in ihren Kopf schafften, dann drehten die sich nicht um sequenzielle Analysen, sondern um den anstehenden Beitrag über Drachenzucht.
Inzwischen hatte Tessa es auch mit Mia abgeklärt, dass sie diesen Bericht schreiben würde. Die Redakteurin hatte so viel Eigeninitiative und Engagement wohlwollend zur Kenntnis genommen. Immerhin etwas.
Tessa schielte zum wiederholten Male auf die Uhr an der Wand des Hörsaals. Aus unerfindlichen Gründen hatte sich der Zeiger in den letzten 300 Minuten kaum vorwärts bewegt. Es konnte unmöglich erst 8:36 Uhr sein.
Schließlich gab sie den Kampf gegen ihre Müdigkeit auf und legte den Kopf auf die Tischplatte. Nur kurz die Augen schließen.
Sie schreckte auf, weil alle auf die Tische klopften – der Applaus der Studierenden – und schaute sich orientierungslos um. Was sich angefühlt hatte, wie nur wenige Sekunden dösen, war in Wirklichkeit eine komplett verschlafene Vorlesung. Jetzt war sie zwar matschig, aber immerhin ausgeruhter. Und nach einem starken Kaffee konnte sie dann auch dem nächsten Seminar einigermaßen folgen.
So gut sogar, dass sie anschließend noch zum Campusradio ging. Sie musste immer noch das Interview mit Henry schneiden und konvertieren. Je eher sie damit fertig war, desto besser.
Die Redaktion lag im Erdgeschoss und hatte große Fenster, doch die Aussicht war bescheiden. Man schaute nur auf das benachbarte Gebäude und rund 200 Fahrräder.
Der Raum war vollgestopft mit mehreren Schreibtischen, einem Sofa und diversen Schränken, in denen unter anderem die ganzen Aufnahmegeräte gelagert wurden. Rechts lag die Sendekabine, die durch ein Fenster und eine Tür schalldicht vom Rest der Redaktion getrennt war. Und links ging es in den Schneideraum, den Tessa nun ansteuerte.
Im Grunde genommen unterschieden sich die einzelnen Schneideplätze nicht voneinander, doch Tessa nahm am liebsten den dritten auf der linken Seite, wenn sie die Wahl hatte. Sie bildete sich ein, dass die Tastatur dort nicht ganz so vollgekrümelt war und die Maus nur halb so sehr klebte. Wie auch immer das passieren konnte, wo doch im gesamten Schneideraum Ess- und Trinkverbot herrschte.
Sie schloss ihr Aufnahmegerät an den Computer an, zog sich die Datei rüber und setzte die Kopfhörer auf.
Das Schneiden war der unangenehmste Teil der Arbeit. Vor allem, weil Tessa dabei wieder und wieder ihre eigene Stimme hören musste, die vollkommen anders klang als in ihrem Kopf.
Wie ertrugen andere Menschen es nur, ihr zuzuhören, wenn sie sprach? Und warum machte sie diese kleinen Schmatzgeräusche, wenn sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen?
Zum Glück war es kein Problem, diese Geräusche rauszuschneiden, ebenso wie zu lautes Atmen oder zu lange Pausen. Doch es sorgte dafür, dass Tessa sich unwohl fühlte, wenn sie daran dachte, irgendwann einmal live zu moderieren.
In solchen Momenten half es ihr, sich vor Augen zu führen, dass bei Incis Bericht niemand auf die Nebengeräusche geachtet hatte. Das war vollkommen nebensächlich.
Also atmete Tessa noch einmal bewusst durch und nahm sich dann die nächste Minute des Interviews vor.
Der Donnerstag war der erste Tag in dieser Woche, an dem Tessa nichts fürs Radio tat. Verschont wurde sie davon aber trotzdem nicht. Denn nach dem ersten Kurs ging sie zusammen mit Djalisa in die Mensa.
Hatte ihre Kommilitonin schon im Seminar unkonzentriert und ruhelos gewirkt, so war das nichts im Vergleich zu jetzt. Entgegen ihrer sonst so ruhigen Art war Djalisa wie ein menschlicher Flummi. Ihre Schritte waren ausladender und schneller, ihr Blick huschte hin und her und etwa einmal pro Minute schaute sie auf ihr Handy. Auf Nachfragen hatte sie nur nichtssagend mit den Schultern gezuckt.
Tessa würde aber nicht lockerlassen. Doch zunächst mussten sie sich entscheiden, was sie essen wollten. Nach einem kurzen Blick auf den Mensaplan entschieden sich beide Frauen für die Falafel-Bällchen mit Fladenbrot und Chili-Minz-Joghurtdip.
Mit den Tabletts suchten sie sich einen freien Platz in der Nähe der Fenster.
Während Tessa das Fladenbrot aufschnitt und mit den Falafel und dem Joghurt-Dip füllte wie einen improvisierten Döner, rupfte Djalisa ihr Brot abwesend in kleine Stücke.
„Jetzt sag schon, was ist los?“, drängte Tessa.
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