Christine Kraus
Im Schwebezustand
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2015
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.
Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei der Autorin
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Die Sonne
im Auge des Falken
der zurückgekehrt auf meine Hand.
Yoshiwake Tairo
Cover
Titel Christine Kraus Im Schwebezustand Engelsdorfer Verlag Leipzig 2015
Impressum Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte bei der Autorin Hergestellt in Leipzig, Germany (EU) www.engelsdorfer-verlag.de
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
Lintuwörter
„Kannst du nicht schneller fahren?“, schrie ich zu Julien hinüber, während ich das Fenster auf meiner Seite herunterließ.
„Der Wagen gibt nicht mehr her“, rief er zurück, trat trotzdem fester auf das Gaspedal, den Blick konzentriert auf die Straße gerichtet. Die alte Schüssel, die er fuhr, war eben nur für Familienausflüge geeignet, nicht für Verfolgungsjagden.
Wir waren bestimmt schon zehn Minuten aus der Stadt draußen und rasten auf der dunklen Landstraße mit hundertsechzig Sachen hinter den Verbrechern her, die Frau Schmidt überfallen hatten – meine Frau Schmidt, die liebenswerteste, klügste alte Dame der Welt. Der Abstand wurde immer größer und wir liefen Gefahr, den Wagen vor uns zu verlieren. Das durfte auf keinen Fall geschehen. Erstens hatte ich eine Mordswut auf die Typen und zweitens wollte ich unbedingt wissen, was sie bei ihr gesucht hatten – auch wenn fraglich war, ob sie das ausgerechnet mir anvertrauen würden. Ich schnallte mich ab und rutschte auf dem Sitz Richtung Fenster. Julien registrierte meine Bewegung und rief: „Elli, was machst du?“
Bestürzung lag in seiner Stimme, aber darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern. Es musste etwas geschehen, bevor uns die Situation entglitt! Ich hielt mich mit beiden Händen an der Fensteröffnung fest, machte mich leicht und hechtete hinaus. Der Fahrtwind warf mich ein paar Meter zurück, doch ich fing mich rasch und schoss nach vorn über Juliens Wagen hinweg auf das Auto der Verbrecher zu.
Ich musste sie vorhin überrascht haben, denn sie hatten mich über den Haufen gerannt, als ich das Haus, in dem Frau Schmidt ihren Buchladen hatte, durch die Hintertür betreten wollte. Bis ich mich wieder aufgerappelt hatte, waren sie um die Ecke verschwunden. Ich hatte gehört, wie ein Auto anfuhr, und Julien angerufen, während ich in das kleine Lager des Buchladens gestürmt war. Es war total verwüstet. Und Frau Schmidt mitten im Chaos reglos auf dem Boden. Gerade als mich eine Panikattacke erfassen wollte, hatte sie die Augen geöffnet und gemurmelt: „Es ist alles gut, Elli, ruf mir nur einen Krankenwagen …“
Ich war losgerannt – ohne zu wissen, warum eigentlich. Es fühlte sich alles irgendwie gefährlich an und ich hatte Angst um Frau Schmidt. Julien war mit seiner Kiste um die Ecke geschaukelt, ich war in den Wagen gesprungen und wir hatten die Verfolgung aufgenommen. Während wir durch die Straßen gekurvt waren, um die Spur der Verbrecher zu finden, hatte er den Krankenwagen gerufen und seine Kollegen informiert. Julien war Polizist, Kriminalkommissar, besser gesagt. Aber eben noch war er privat unterwegs gewesen. Verabredet mit mir, bei Frau Schmidt. Oh, nicht daran denken jetzt, Elli, sonst wird das hier nichts …
Ich hatte das Auto erreicht, flog mit gleicher Geschwindigkeit über ihm her und warf mich dann quer auf die Windschutzscheibe. Hoffte, sie würden vor Schreck ins Schleudern geraten, doch das passierte leider nicht. Der Fahrer zuckte zwar zusammen, blieb dann aber erstaunlich ruhig und starrte mich böse an. Obwohl er nichts mehr sehen konnte, ging er nicht mit dem Tempo runter.
Er hatte einen fast viereckigen Schädel, kurze Haare und helle Augen, soweit das in der Dunkelheit zu erkennen war. Auf dem Beifahrersitz saß ein zweiter Mann, sonst befand sich niemand im Wagen. Sein Gesicht konnte ich aus meiner Position nicht genau sehen, nur, dass er kahl rasiert war und nicht viel älter sein konnte als ich. Wie aus einem Fernsehkrimi die beiden, das reinste Klischee.
Der Kahlkopf schrie irgendetwas und versuchte, dem Fahrer ins Lenkrad zu greifen. Der bellte zurück, und der Kahlkopf zog die Hände wieder ein. Dann ließ der Quadratschädel das Fenster herunter und angelte nach mir, während er weiterfuhr, als könne er durch mich hindurchsehen. Ich rutschte ein Stück Richtung Beifahrer, doch der hatte inzwischen auch den Arm draußen. Es wurde verdammt eng auf der Windschutzscheibe. Fieberhaft überlegte ich, was ich tun könnte. Währenddessen gelang es dem Fahrer, an mir vorbei auf die Straße zu schauen. Er grinste triumphierend. Das machte mich noch wütender, als ich sowieso schon war, und ich bewegte mich schnell wieder ein Stück auf ihn zu. Leider hatte ich seine Reichweite unterschätzt. Seine Finger krallten sich wie eine Beißzange in meine Schulter. Ich hatte das Gefühl, die Löcher, die er mir ins Fleisch grub, würden für immer bleiben. Plötzlich riss er an mir, als wollte er mich in den Wagen zerren. Das hätte er besser nicht getan.
Für einen kurzen Moment trübte ein roter Schleier meinen Blick, dann wurde es eiskalt in mir. Ich löste mich von der Scheibe und ließ mich vom Fahrtwind zurückwerfen. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte der Quadratschädel mich nicht mehr loslassen können. Im nächsten Augenblick war ein scheußliches Geräusch zu hören. Sein Arm war entweder gebrochen oder ausgekugelt. Jedenfalls hing er schlaff aus dem Fenster und ich war frei. Sicherheitshalber ließ ich mich erst einmal hinter den Wagen fallen und beobachtete die beiden. Der Kahlkopf lenkte jetzt, während der Quadratschädel fluchend versuchte, den verletzten Arm ins Wageninnere zu ziehen. Dabei stand er weiter auf dem Gaspedal und dachte offensichtlich nicht daran, langsamer zu werden. Oh Mann, ich hatte keine Ahnung, wie ich sie stoppen konnte. Doch ich war nicht gewillt aufzugeben. Dafür war meine Wut zu groß.
Julien fiel immer weiter zurück, obwohl er bestimmt aus dem Wagen herausholte, was ging. Ich warf mich noch einmal auf die Windschutzscheibe. Das musste einfach funktionieren! Die konnten nicht auf Dauer blind fahren. Jetzt wurde der Quadratschädel doch langsam nervös. Der Schmerz schien ihn zu beeinträchtigten. Trotzdem übernahm er mit der rechten Hand wieder das Steuer. Der Kahlkopf hatte auf einmal einen Schlagstock in der Hand, lehnte sich aus dem Fenster und schlug nach mir. Diesmal war ich in einer besseren Position – und vorsichtiger obendrein. Ich hockte mich komplett vor den Fahrer und wich den Schlägen des Beifahrers aus. Er traf nur die Windschutzscheibe. Dann versuchte er, sich aus dem Fenster zu lehnen – und wäre fast rausgefallen. Nachdem er so nichts ausrichten konnte, schleuderte er den Stock nach mir. So ein Idiot! Was er sich davon wohl versprochen hatte? Ganz gewiss hatte er nicht damit gerechnet, dass ich den Stock fangen würde. Ich übrigens auch nicht. Tat ich aber. Der Fahrtwind bremste seine Wucht und irgendeine Geistesgegenwart ließ mich nach ihm schnappen.
Читать дальше