Saly überlegte kurz:
„Am besten tun wir erst einmal gar nichts. Man wird das schnell vergessen haben. Wahrscheinlich war das Geschwätz nur als Nettigkeit gemeint, die mir den Abend versüßen sollte. Nehmen wir es einfach nicht ernst und konzentrieren uns besser auf euren Umzug.“
Joseph schien erleichtert.
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Schon am Nachmittag, Saly packte gerade zusammen mit Jean die letzte Werkzeugkiste im Atelier aus, kamen die Männer eines Fuhrunternehmers ins Haus gestürmt, um die Sachen der Familie herunter zu tragen und aufzuladen. Ein Teil der Möbel und Haushaltskisten befand sich ohnehin noch auf dem Leiterwagen. Vor dieses Gefährt wurden zwei Leihpferde gespannt, beide Wagen verschwanden dann durch die Toreinfahrt. Zu Salys Ärger hörte das Rumoren im Obergeschoss nach wie vor nicht auf. Die verbliebenen Möbel wurden gerückt und die Mädchen keiften sich gegenseitig an. Ab und zu hörte man Joseph dazwischenfahren, ohne Erfolg. Saly sah sich genötigt, die Arbeit zu unterbrechen um nach dem Rechten zu schauen. Oben sah es ziemlich wüst aus, überall lagen Kleider herum, Koffer und Kisten standen offen und waren noch nicht gepackt. Saly kratzte sich am Kopf und sprach ein Machtwort. Dann überlegter er kurzerhand, wie man die letzten Sachen und die Frauen hinüber in die neue Wohnung bringen könnte. Er trug Odette und Martine auf, die Kisten notdürftig packen und dann damit in der Leihkutsche zum neuen Haus hinüber fahren. Inzwischen würde er selber mit Jean und Joseph die Mutter nach unten bringen. Wenn sie in der neue Bleibe einigermaßen Platz geschaffen hätten, sollten die Schwestern das Bett für die Mutter vorbereiten und dann mit dem leeren Wagen wieder nach Charlottenborg zurück kommen.
In Salys Kopf pochte es. Das mussten die sich überstürzenden Ereignisse sein. Nach dem wochenlangen monotonen Dahingeschaukel in Kutschwagen und auf Schiffen war der ganze Trubel einfach zu viel. Hastig trank er ein Glas Wasser und rieb sich die Schläfen. Gut, dass er sich noch ein paar Minuten im Atelier verkriechen konnte.
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Das Palais lag gleich hinter dem neuen Theater. Ein modernes, bequemes Haus, das innen komfortabel aber einfach ausgestattet war. Auf Prunk hatte man verzichtet, dafür aber robuste, zeitlose Möbel gewählt, die viel Kombinationsspielraum ließen. Die Wohnung ließ sich auf diese Weise einrichten wie man es wollte. Selbstredend hatten Martine und Odette darüber bereits Pläne gefasst, mit denen sie Madame, die von zwei Möbelträgern nach oben gebracht worden war, sofort überfielen. Diese schien weder zu leiden, noch wirkte sie ermüdet. Rüstig übernahm sie das Regiment, gab Befehle und war ganz in ihrem Element.
Saly tat es außerordentlich leid, dass er seinen Vater an die Frauen ausliefern musste.
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Am Abend speiste die Familie zusammen im spärlich dekorierten Salon. Martine hatte eine Suppe gekocht und eine Liste der Dinge aufgestellt, die ihrer Meinung nach in der bereits voll ausgestatteten Küche fehlten.
Es handelte sich um lapidare Sachen wie einen Brottrog, ein bestimmtes Sieb oder eine Schere. Mit einigen Geräten konnten die Damen bisher nichts anfangen, so gab es eine Art kleinen Besen aus Metall, der in einem hohen Tongefäß steckte, oder eine Mühle, die allerdings nicht zum Mahlen von Kaffee vorgesehen sein konnte. Wenn das Hausmädchen käme, würde man danach fragen.
„Ich kann kein Dienstmädchen bezahlen! Ihr müsst zunächst ohne auskommen. In Valenciennes ging das doch auch! Paris und die Großzügigkeit der Marignies hat euch verwöhnt.“
Reichlich überreizt sprang Saly auf und verließ die Wohnung. Über den Nytorv in Richtung Charlottenborg spazierend genoss er die kalte Luft, die von baldigem Frost kündete. Die Nacht war klar und die Sterne ganz nah. Plötzlich stand bedrohlich und riesenhaft ein Pferd mit Reiter vor ihm. Seine Augen zitterten dem glimmenden Goldschleier entlang, den das Denkmal umgab. Saly schwankte leicht. Dann entfaltete der Pegasus seine Flügel und der König ritt in den Himmel. Ein wahrlich mystisches Geschlecht, das Dänische.
In der Nacht träumte Saly von einem riesigen Ross, dass von muskelbepackten, schwarzen Männern an den Haaren herbeigezogen sich bäumend wehrte und hart um sich schlug. Einige der Figuren konnte das Tier abschütteln, sogleich aber strebten neue aus seinem Bauche hervor, klommen am Fell empor und hakten sich gewaltsam in die Haut ein. Das Ross schrie auf und warf sich zu Boden. Tausend Rinnsale frischen Blutes strömten, zu Läusen zerquetscht die schwarzen Menschlein um es herum. Plötzlich ein Hieb wie ein Blitz, die zuckende Peitsche vom Himmel herab. Im Aufbäumen verschwand alles. Noch am nächsten war das Bild in ihm und gab dem Tag etwas Bedrohliches. Ihm war, als müsse er das Tier finden, um ruhig zu werden.
Innerlich in Aufruhr beschloss Saly, anstatt erst in den nächsten Tagen, sofort nach Christiansborg zu gehen. Dort, in der Écurie, hoffte er Prizelius und Reitzenstein wieder zu treffen. Man war sich auf dem Fest begegnet. Er hatte gefragt, wie es dem Schimmelhengst ergangen sei. Er hatte die Antwort bekommen, das Tier habe sich unter dem Reiter sehr bockig angestellt und deshalb für die Reitschule ungeeignet. Nun wollte der Stallmeister den wertvollen Hengst der Zucht in Frederiksborg überlassen. Voller Neugier auf das Gestüt, von dem ganz Europa sprach, hatten die beiden angeboten, das Pferd dorthin zu überführen. Ob Saly schon einmal Pferde in Freiheit erlebt habe, hatten sie wissen wollen. Wenn nicht, dann müsse er unbedingt die Gelegenheit wahrnehmen und sie nach Frederiksborg begleiten.
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Jetzt, am helllichten Tage wirkte das Denkmal von Christian V. gar nicht mehr bedrohlich. Golden schimmerten Pferd und Reiter im scharfen Kontrast der Herbstsonne.
Saly spazierte Langsam um das Werk herum und begutachtete es genau. Zu schwer und überladen. Nicht nur die immens teure Vergoldung verursachte diesen Eindruck, sondern auch das Riesenhafte, Bezwingende, das von dem Reiter ausging. Lächerlich wirkten dessen nackte Zehen, auf die sich, aus der vorderen Perspektive heraus, sogleich der Blick heftete. Diese Ansicht führte den Betrachter so weit vom Thema fort, dass dieser sich wunderte, wenn ihn auf der anderen Seite der fürchterliche Blick eines gestürzten Kämpfers traf, der vom Pferd überlaufen wurde. Saly wusste sofort, welche Bedeutung der am Boden Liegende hatte. Es war ganz lapidar. Der Gefallene diente dem Konstrukt als Stütze. Denn das schwere Bleipferd hatte sich im hohen Trab, der offensichtlich dem Pferde des Marc Aurels entliehen war, nicht allein halten können. Aus diesem Grunde hatte der Kollege den fürchterlichen Kerl erfunden, ihn unter das Pferd gelegt und dessen Knie in das Geschlecht des Hengstes stoßen lassen. Selbst ein unerfahrener Pferdefreund wie Saly wusste, dass die Natur des Tieres es nie vollbringen würde, den am Boden liegenden Körper einfach so im majestätisch versammelten Trabe zu überlaufen. Und der Stoß in den Unterbauch, die Reaktion wäre prompt und enorm. Überhaupt wirkte das Pferd sehr grob und war recht oberflächlich bearbeitet. Sein Kopf war zu ungenau konturiert, die Beine wirkten stumpf und schwer, der Hals war falsch bemuskelt und starr aufgereckt. Das Blei war leblos. Genauso wie der Reiter. Plump saß dieser zu Pferde, verdeckt von der schweren Römerrüstung lugte der Herrscher grausam unter seinem himmelhohen Helm hervor. Selbst die Übersteigerung war misslungen. Gar nichts stimmte hier.
Auf dem Weg nach Christiansborg wandelte Saly in Gedanken. Sein König würde ein lebendiges Tier unter sich spüren. Und das Pferd den lebendigen Menschen auf sich. Reflexionen. Angeschlagene Saiten, Eindrücke. Erste Bilder. Schritt für Schritt. Irgendwann tat sich des Künstlers Herz auf, bis zum Schmerz. Eine Begegnung, in der man sich eins fühlte. Alles begann, sich übereinander zu schieben. Jegliches würde überein kommen. So sollte es werden.
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