Man wandte sich gegen Nörreport, jenes Stadttor welches sie bei der Einreise benutzt hatten. Die Straßen im schattenträchtigen Morgenlicht wirkten durch die hohen Häuserblöcke wie kalte, dunkle Schluchten. Der Atem der Pferde dampfte. Als laufe ihnen, erschreckt vom Widerhall der eigenen Ganggeräusche, ein Schauer über den Rücken. Auf diese beklemmende Art hatte er noch keine andere Stadt erfahren. Nur raus hier! Plötzlich riss dir Häuserfront auf und das weiße Herbstlicht traf die Kolonne quer. Lange Schatten. Orientierungslos kutschierte der Künstler dahin, hinein in eine Nebelwand.
Der Dunst kam vom Nørrefælled herüber. Genährt vom Wasser der Gräben und Feuchtwiesen. Grau und undurchsichtig wurde alles und legte sich auf des Bildhauers Gemüt. Es war das Licht, das hier Alles andersartig traf. Immer bleib es in der Waage, erhob sich kaum, sank nie herab. Eine gleichförmige Lampenkuppel am Himmel. Gedimmt, gedemütigt. So kündigte sich im Norden der Winter an.
An der Einfahrt zur Nørrebro mussten sie ihre Papiere zeigen. Reitzenstein ritt voraus, dann folgte der Wagen mit Saly und zum Schluss der widerspenstige Hengst mit seinem Aufpasser. Der Übergang an sich war frei und auf der anderen Seite warteten schemenhaft die von Schnauben und Dampfen umgebenen Zugtiere vor den Wagen einiger Bauern. Gerade, als Says Wagen die Mitte des Übergangs passierte, begann ein Tumult. Der weiße Hengst hatte sich gegen den schweren Leib des schwarzen Pferdes gedrängt, wurde daraufhin abgewehrt und gegen die Brückenmauern gedrückt. Prizelius Bein war zwischen den beiden Leibern eingequetscht, so dass er den Friesen kaummehr dirigieren konnte. Beide Pferde waren in Kapfestimmung, schnaubend warf sich der große Hengst immer wieder gegen den Widerpart. Als sein Reiter versuchte, den Kopf vom Feinde mit dem linken Zügel wegzuziehen, verlor der Friese sein Gelichgewicht, glitt seitlich aus und drohte umzukippen. Prizelius musste das Führseil loslassen und abspringen. Kaum dass der weiße Hengst gespürte hatte wie Druck und Zug nachließen, galoppierte er auch schon los, setzte über den Schlagbaum hinweg und galoppierte in den Nebel hinein. Salys Kutschpferd tänzelte gefährlich, und draußen vor dem Tor drohten die Zugtiere durchzugehen. Weil Prizelius nicht wusstte, ob Saly sein Pferd im Griff hatte, langte er ihm in die Leinen und hielt den Wagen auf. Hin – und her gerissen zwischen dem Kutschpferd und dem am Zügel zerrenden Schwarzen. Reitzenstein war inzwischen mit seinem Spanier bis zum Schlagbaum gekommen, hatte zum Sprung angesetzt, den das Pferd allerdings verweigerte. Sein Reiter schwankte bedenklich im Stattel und konnte sich gerade noch an die Mähne des Tieres krallen. Zeitgewinn für das fliehende Pferd. Endlich reagierten die Wachleute und ließen den Verfolger durch. Der kleine Braune preschte los und löste sich im Nebel auf.
Als Prizelius und Saly wohlbehalten auf der anderen Seite ankamen, entstand eine unter den dänischen Bauern eine lautstarke Diskussion darüber, in welche Richting der Weiße und sein Verfolger verschwunden waren. Das befreite Pferd hatte sich natürlich nicht an Straßen und Wege gehalten und war stattdessen im tiefen Dunst quer hinüber zum Østerfælled geprescht. Saly fröstelte. Am liebsten wäre er jetzt umgekehrt und wieder hinter den Schutz der Mauern gekrochen. Trotz der Antipathie.
Reitzenstein schien ein wenig ratlos. Weder schien es ihm ratsam im Nebel, die Verfolgung aufnehmen, noch die Straße verlassen. Man würde mit der Entscheidung warten müssen, bis bis der Dunst sich lichtete. Man beschloss die Alle zu nehmen. Hier nahm der Verkehr zu, je weiter man sich von der Stadt entfernte. Die meisten Wagen waren mit Heu bepackt, das als Pferdfutter in die Stadt gebracht wurde. Auch einige Händler waren unterwegs. Immer wieder fragte Prizelius Passanten, ob man einen schnellen Reiter oder einen einsamen Schimmel gesehen habe. Aber niemand konnte Auskunft geben. Als die beiden Reisenden irgendwann zu einer Zollstation kamen, die auf einer Anhöhe lag, konnten sie sehen, dass sich der Dunst von der Ostsee her lichtete.
Madame hatte sich nach ihrer Ereiferung erschöpft zurück gelehnt und auf dem Canapé ausgestreckt.
Saly verharrte unsicher über dem dicken Werk Platons. Er fühlte sich dumm und hintergangen. Seine Jahre im fernen Italien hatten ihn von den französischen Verhältnissen getrennt. Nach der Rückkehr in das mächtige Frankreich, hatte er sich nur wenige Gedanken um etwaige neuartige Zeitströmungen gemacht. Madame hingegen trug offensichtlich wesentlichen Anteil am Vorantreiben der modernen Wissenschaften und Künste. Die ganze Zeit hatte er ihre Wichtigkeit unterschätzt. Und auch ihre Macht. Und diese Frau hatte ihn, einen mäßig bekannten Bildhauer, als weiteres Element auserkoren. Was hatte sie in ihm zu sehen begonnen? Was will sie aus mir machen? Er befand sich in ihrer Abhängigkeit. Ganz und gar. Und musste gewappnet sein. Wenigstens geistig.
Madame massierte sich die Stirn:
„Wo waren wir stehen geblieben?“
Ihre Art, wie sie müde den Diskurs fortsetzen wollte, schien ihm reichlich leidenschaftslos. Konnte sie nicht einfach Rücksicht auf ihre Gefühle nehmen und ihren Ehrgeiz zügeln? Sie musste sich diese Sturheit im Denken und Reden wohl in Anbetracht der männlichen Übermacht angeeignet haben. Um standzuhalten beim Erkenntniswettbewerb. „Wir sprachen eben davon, dass den theoretischen Schriften und philosophischen Diskursen
unserer wichtigen Denker immer einen Hauch von Dichtung anhaftet und ich gab euch das Beispiel, von Rousseau und seiner Oper. Demnach darf man ihn und die anderen sowohl zu den Künstlern als auch zu den Denkern zählen.“
„Aber nicht jeder Künstler muss gleich ein Denker sein!“, wehrte sich Saly gegen diese Annahme. „Meines Erachtens ist der Denker zu theoretisch veranlagt. Wo bleibt denn sein Gefühl? Ist der Mensch nicht ganz Gefühl und Gedanke an sich?“ Jetzt war er gereizt.
Etwas zu herablassend unterbrach ihn Madame:
„Ihr meint: Ist der Mensch an sich nicht ganz Gedanke und Gefühl?“
Der vermeintlichen Verbesserung wollte er eigentlich gar nicht zustimmen:
„Wegen meiner... Also, jeder Mensch, so glaube ich, besteht zu gleichen Teilen aus Gefühl und Verstand...“
„Aus gleichen Teilen? Das ist zu bezweifeln. Dann wären wir ja alle gleich. Betrachten sie nur die Unterschiede zwischen Frauen und Männern! Frauen neigen zum Gefühl, im Extrem zu Hysterie und Männer ordnen sich ganz dem Wissenschaftlichen unter. Man denke an Erfinder, Ärzte und Forscher!“
„Aber, Madame, das ist verwunderlich, dass ihr so einen großen Unterschied darin seht! Ich dachte immer, ihr seid den Frauen zugetan, mutet ihnen ebensolchen Geist zu, wie den Männern, ja dachte ich, teilweise noch mehr, als den Männern, ihr seid doch selber ein gutes Beispiel dafür, wie gewandt und gebildet sich Damen benehmen können! Wieso gebt ihr das jetzt alles an die Herren ab?“
„Ah, ihr widersprecht! Gut gemacht! Vielleicht noch ein wenig geschliffener, einen stilvolleren Satzbau benutzen, einige nette Zitate einstreuen, dann seid ihr für die Herren gerüstet!“
Überlegen und schulmeisterisch kam sie ihm vor. Wie sie zwischen diesen zwei Ebenen wechselte. Ihn zu angemessenerem Ausdruck und gehaltvolleren Inhalten anhalten wollte.
Dabei wusste sie doch, dass es ihm allenfalls gelang, tief in sich hinein zu fühlen, die Emotionen in Gedanken zu fassen und mitunter irgendwelche Erkenntnisse zu haben. Derweil blieben Stil und Reihenfolge bei ihm stets unberücksichtigt.
Sie bemerkte seine verstimmte Unsicherheit:
„Glaubt mir, Saly, ihr seid ein besonderer Mensch! Ihr lebt für eure Kunst und drückt euch durch sie aus! Das habe ich euch schon des öfteren klarzumachen versucht. Seid stolz darauf, wie ihr seid, macht es zu eurer Attitüde und spielt ein wenig damit! Spielt, dass ihr mit eurem Denken spielt! Etwas anderes tun die die Herren Philosophen auch nicht! Lernt, die Sprache wie den Meißel, die Sätze wie die Feile und das Wort wie den Schleifsand zu beherrschen. Nur ein wenig, dann seid ihr auch darin ein Meister.“
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