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An die Stunden bis zu Abreise konnte er sich nicht mehr erinnern, erst als er ein Stück gegangen war und Adoree bei den Kaleschen sah, wachte er er auf. Sie war die Mittlerin, irdisch und real. Nichts wollte er sich anmerken lassen. Kein Verdacht durfte aufkommen. Das Mädchen wäre damit überfordert. Und er auch. Sie war das Bindeglied zwischen ihm und ihr. Ihrer beider Vertraute.
Davon wusste sie nichts. Auf welche Weise sollte er Adoree von nun an begegnen? Wie ein Vater der Tochter? Dann würde sie einfühlsam seine Marter spüren und alles herausfinden.
Jetzt, da Adoree freudig vor im stand, drohte ihr Lächeln all diese Gedanken zu vertreiben. Saly umarmte das Mädchen väterlich und erhielt einen Kuss auf die Wange. Freudestrahlend tat sie recht geheimnisvoll:
„Wir warten noch auf einen wichtigen Herrn, der uns begleiten wird. Incognito sozusagen.“
An sich stand schon alles für die Abfahrt bereit. Jean bewachte das Gepäck im offenen Wagen, Lisette saß neben ihm. Saly und Adoree hatten zusammen im Coupé Platz genommen. Da saßen sie sich gegenüber, jeder mit seiner Erwartung. Adoree versuchte der Stimmung zu entkommen:
„Wer mag wohl der Begleiter sein?“ Saly wusste darauf keine Antwort.
„Gleichgültig, mein Kind. Hauptsache wir haben uns wieder. Habe dich sehr vermisst, war direkt einsam und allein mit meinem Gipsblock. Unsere Gespräche gingen mir ab. Wagte ich mich gar nicht so recht vor bei der Büste...“
Adoree beugte sich hinüber, legte ihre Hand auf seinen Arm und meinte scherzhaft:
„Oh, das darf nicht sein! Eine derartige Abhängigkeit ist fatal, konntest du doch vorher ohne Andenken an mich arbeiten!“
Sie hatte ihn nicht ganz ernst genommen und seine Offenbarung als humorige Übertreibung verstanden. Das kam wohl daher, weil Saly, was er sich eingestehen musste, gar nicht Adoree gemeint hatte. Zum Glück wurden er an dieser Stelle in seinen Gedanken unterbrochen. Ein Reiter hatte sich genähert, hatte sein Pferd direkt neben der Kutsche pariert und war gerade dabei, seinen Dreispitz zu ziehen:
„Mademoiselle, Monsieur. Stehe zu Diensten. Poisson, mein Name.“
Er verbeugte vom Sattel aus, dass er es eben schaffte, durch das Fenster des Coupés in Adorees Gesicht zu gaffen. Deren hübsches Gesicht war äußerst beschämt rosé angelaufen. Es folgte ein unmittelbarer Frabwechsel zu tiefrot. Ärger und Wut schossen in ihr hoch. Unruhig begann das Pferd unter dem Schamlosen zu tänzeln, so dass er sich, um es zu zügeln, wieder aufrichten musste. Adoree nutzte diese Gelegenheit dazu, sich rasch wieder zu fassen um schnippisch festzustellen: „Ein temperamentvolles Ross, das da mit euch durchgeht! Es ist zu hoffen, dass ihr es im Zaume habt! Sonst wird einem die Reise dann doch zu beschwerlich, da man immer acht geben muss, ob er sich noch auf seinem Gaul befindet...!“
Der Reiter zog seinen Degen und rief:
„Touché, Mademoiselle! Lasst uns aufbrechen!“
Die beiden Wagen setzten sich in Bewegung, der Reiter führte den Trupp an. Adoree war aufgebracht. Zwar hatte sie gut pariert und ausgeteilt, war aber völlig durcheinander ob der Frechheit dieses Menschen. Jemand, der es wagte, sich so zu benehmen, musste schon eine sehr hochgestellte Person sein. Dass sie diesen Angeber nicht zuordnen konnte, plagte sie. Weshalb hatte Madame gerade diesen Kerl als Begleitung ausgesucht? Saly, der ihre gedrückte Stimmung gar nicht bemerkte, dachte laut:
„Poisson, Poisson – den Namen hörte ich schon. Ich kann mich nicht entsinnen – Poisson...“
„Ist doch einerlei, um wen es sich handelt, er ist ein Aufschneider, sonst nichts!“
Halbherzig versuchte Saly das Mädchen zu beruhigen, er war nicht ganz bei der Sache. Immer wieder klang der Name nach und suchte eine Verbindung. Entnervt rumpelten sie über das Kopfsteinpflaster der Hauptallee nach Versailles. Salys Kopfweh nahm wieder zu. Adoree schwieg angestrengt. Sie passierten gerade das äußere Tor des Schlossbereichs, als Salys Blick auf das Gerüstwerk an der Fassade fiel. Schon damals bei der Ankunft war ihm die Baustelle aufgefallen und Jean hatte ihm einige Fragen dazu gestellt. Viel hatte sich am Bau seitdem nicht getan...
„Der Baumeister, Adoree, es ist der Generalbaumeister des Königs!“
Adoree tat desinteressiert:
„Mit Manieren eines Arbeiters!“
Sie hatte nicht begriffen, oder wusste es nicht.
Saly klärte auf:
„Das ist der Bruder von Madame! Hörst du, ihr Bruder!“
Erst langsam kam es Adoree:
„Der, der in Italien war?“
Nachdem das Geheimnis gelüftet war, tauschte man sich über Monsieur Poisson aus. Zunächst hielt Saly fest, dass Monsieur Poisson so großzügig gewesen sei, ihm zusammen mit Boucher das Atelier im Schloss einzurichten. Er berichtete von den Umständen und konnte mit gutem Gewissen sagen, dass er eine gute Meinung von ihm gehabt hätte. Dieser Mann habe nach dem Bericht von Jean sehr zuvorkommend auf ihn gewirkt. Auch der Handwerksmeister hätte gut über ihn gesprochen.
„Das passt aber gar nicht zu seinem Benehmen...“
Adoree schien ratlos. Als Saly sich die Absicht Madames vor Augen führte, rutschte sein Herz erneut in den Magen:
„Es war von der Marquise sicherlich nur lieb gemeint. Sie wollte uns die Reise bloß so angenehm wie möglich machen. Da sie ihrem Bruder sicherlich besonders vertraut, eignet sich dieser doch ganz gut...“
Was redete er da für einen Unsinn sobald er an sie dachte? Er musste sich zusammen reißen.
„Sich ungehobelt zu benehmen, hat sie ihm bestimmt nicht aufgetragen!“
Saly schlichtete weiter, indem er den Mann anpries:
„Man hatte erwähnt, dass Poisson in seinem Handwerk nicht nur sehr kompetent sei, sondern auch gut ausgebildet. Er versteht etwas von der Baukunst. Coypel hat ihn gefördert und zum Kenner gemacht. Hast du unlängst die Ausstellung im Palais du Luxembourg gesehen? Die war nach seinem Konzept. So schlecht kann dieser Mensch gar nicht sein, Adoree!“
Das Mädchen war immer noch beleidigt und schmollte. Sie sah aus dem Fenster. Die Reise, auf die sie sich so sehr gefreut hatte, war ihr vergällt. Dass die Wagen gerade durch den belebten Ort Versailles fuhren, bemerkten beide Insassen gar nicht. Normalerweise hätten sowohl Adoree als auch Saly ihre Eindrücke von den Gebäuden, dem Treiben und den Menschen aufgesogen und über sich ihre Beobachtungen ausgetauscht. So drohten sie in ihren trotzigen Gedanken zu versinken. Beide stierten aus dem Fenster und Saly nickte nach einer Weile schaukelnden Wiegens ein.
Man kam aufs freie Land. Der Morgendunst löste sich gerade in zarten Schleiern auf, die Sonne machte sich für einen schönen Sommertag breit. Frisch roch es und erdig. Selbst im Wageninneren konnte man die aufdringlichen Stimmen der aufgeweckten, flach über den Kornfeldern fliegenden Kiebitze hören. Beim Passieren der Büsche am Wegesrand wechselten allerlei lustige Melodien. Es duftete nach Flieder. Als Saly ein Sonnenstrahl direkt in die Augen fuhr, schreckte er hoch. Blinzelnd versuchte er sich zu orientieren. Adoree lächelte ihn an:
„Sie waren wohl sehr müde, Monsieur Saly. Das kommt von der vielen Arbeit! Aufwachen! Wir befinden uns auf dem Land und fahren in die Sommerfrische!“
Er war irritiert ob ihres Spaßes. Wie konnten Frauen nur schnell die Laune wechseln? Madame durchzuckte ihn. Sie, das Paradebeispiel. Sein noch frischer Gedankengang wurde vom Reiter, der sich näherte, unterbrochen. Hier auf der Landstraße konnte man ohne Probleme neben der Kutsche her oder an ihr vorbei reiten. Das tat der junge Poisson dann auch ausgiebigst. Jedesmal, wenn er am Coupé entlang kam, versuchte er einen Blick auf Adoree zu erhaschen. Dabei macht er lustige Verrenkungen im Sattel. Adoree sah dann demonstrativ in die entgegengesetzte Richtung. Saly kümmerten die Eskapaden nicht weiter. Langsam gewöhnten sich seine schlaftrunkenen Augen an das Sonnenlicht. Erfrischt blickte er aus dem Fenster und begann, die jungfräuliche Landschaft in sich aufzunehmen. Atmete tief ein, genoss die Reinheit der Luft, spürte die Wärme auf seiner Gesichtshaut und schaute die Farben, die an ihm vorbei zogen. Wie sehr hatte er die Natur vermisst! Das wurde ihm erst jetzt bewusst. In Italien war er täglich einige Stunden in der Landschaft gewandert, um Ausgrabungen zu besuchen oder um sich Ruinen anzusehen. Das warme Klima dort reizte zu Spaziergängen, Ruhepausen im Gras und eindrücklichen Naturbetrachtungen. Wie im Paradies. Er hatte es geliebt, in einer Osteria zu sitzen und bei einer Flasche Wein die hübschen Menschen bei ihren Alltäglichkeiten zu beobachten. Obgleich man ihn keineswegs als Philantrop bezeichnen konnte, waren ihm die südländischen Menschen ans Herz gewachsen. So natürlich fügte sich deren Naturell in die Landschaft ein, dass sich ihre Gesten und Gesichter mit den Farben der Umgebung mischten. Wäre er ein Maler, hätte er diese Eindrücke zu seinem Sujet gemacht. Weit hinten auf einer Wiese waren Bauern dabei, Gras zu mähen. Vier Gestalten im Rhythmus der Sensen in Reih und Glied mechanisch marschierend. Dem scharfkantigen Mähgeräusch nachhören, das knackige, noch saftige Gras riechen. An diesem Tage werden die Halme langsam in der Sonne verdorren und am Ende des Tages den Duft frischen Heus verbreiten.
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