„Ich kann die Alliierten verstehen, wenn sie sich von Revanchegelüsten leiten lassen und eine Bestrafungsaktion in Deutschland durchführen wollen.“ Dagegen hatte niemand etwas Ernstzunehmendes einzuwenden, Werner konterte aber:
„Ich finde die Gemütslage der Alliierten im Moment sekundär, bei uns ist nur wichtig, dass die Versorgung der Bevölkerung zur Befriedigung ihrer Existenzbedürfnisse gewährleistet wird.“ Iris, die bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts gesagt hatte, sagte, wie um das Gespräch über die Besatzungszeit in Deutschland einem Ende zuzuführen:
„Nehmt Euch Zeit im schönen Holland und zeigt Euren Kinder die heile Welt, bevor Ihr wieder in Euer zerstörtes Deutschland zurückkehrt!“ Damit hatte sie zwar reichlich dick aufgetragen, aber auch Recht.
„Manfred, Du musst einmal zu den Kindern hoch und hören, ob noch alle schlafen!“, sagte Petra, und Manfred stand ohne Worte auf und lief nach oben. Als er kurze Zeit später wieder heruntergekommen war, sagte er:
„Die weckt so schnell keiner, die waren so geschafft, als sie ins Bett gegangen sind!“
„Robert, hol doch jedem noch etwas zu trinken!“, forderte Agnes ihren Mann auf, und Robert ging und besorgte Wein, Bier und Schnaps. Er füllte die Weingläser der Frauen noch einmal auf und gab jedem der Männer ein Bier. Er fragte auch noch einmal, wer einen Cognac trinken wollte und wieder meldeten sich nur Bärbel und Piet, obwohl sie schon zwei Schnäpse getrunken hatten, nahmen sie noch einen dritten und tranken den gemeinsam mit Robert.
Am Ende des Abends redeten sie über weitere Planungen der jungen Familien in Amsterdam.
Marga schlug vor, doch einmal einen Ausflug nach Zandvoort zu machen und den Kindern das Meer zu zeigen. Alle nickten und fanden Margas Vorschlag in Ordnung, schon allein, um den Kindern eine Freude zu machen, sollten sie nach Zandvoort fahren.
„Ich finde, wir sollten unseren Ausflug Morgen machen, wer weiß wie lange wir noch so schönes Wetter haben werden und die Kinder ins Wasser können!“, sagte Marga.
„Wir sollten aber vorher den Kindern noch Eimer und Schüppen kaufen, damit sie im Sand graben können“, meinte Gerda. Danach beendeten sie ihren schönen Abend auf Goldschmids Terrasse, Iris und Piet fuhren genau wie Doris und Max nach Hause und wollten nach dem Frühstück am nächsten Morgen gegen 10.00 h wieder erscheinen. Piet und Max brächten ihre Autos mit, sodass sie alle Personen auf die Autos verteilen könnten. Agnes hatte in ihrem Haus so viel Platz, dass sogar Bärbel noch ein eigenes Zimmer abbekam und nicht im Wohnzimmer schlafen musste, sie hatte ihr angestammtes Zimmer im ersten Stock, in dem sie immer schlief, wenn sie bei Goldschmids zu Besuch war. Alle verabschiedeten sich voneinander und wünschten sich eine gute Nacht, danach verließen die Auswärtigen das Haus und die Übrigen gingen in die Badezimmer, um sich bettfertig zu machen.
Die jungen Eltern schlichen sich zu den Kindern in die Zimmer und waren peinlichst darauf bedacht, sie nicht zu wecken. Marga musste daran denken, wie sie früher zu Hause immer leise die Treppen hinunterlief, um zu Werners Zimmer zu gelangen, in dem eigentlich auch Manfred schlief, der aber danach hochging und sich in Margas Bett legte. Sie und Werner liebten sich im Anschluss immer sehr intensiv, natürlich liebten sie sich immer noch, aber ihre Liebe wurde inzwischen von anderen Dingen getragen, es gab nicht mehr das unbändige Feuer, die Vernunftlosigkeit der Frischverliebten. Das bedeutete nicht, dass die Leidenschaft zum Erliegen gekommen war, im Gegenteil, die kriegsbedingte Enthaltsamkeit hatte Marga und Werner nur noch heißer aufeinander gemacht und sie liebten sich gerne und innig. Nur in diesem Augenblick war zusammen mit den Kindern im Gästezimmer kein Denken daran, sie waren auch zu müde und wollten beide gleich schlafen. Marga schmiegte sich an Werner und küsste ihn, das hat sie schon immer sehr gerne getan und das mochte Werner auch über alles. Schließlich schliefen sie aneinander geschmiegt ein, wie sie das früher schon immer getan hatten. Bei Petra und Manfred, Gerda und Siegfried sah es ganz ähnlich aus, auch bei ihnen war die Zeit des Frischverliebtseins vorbei, und die Leidenschaft war nicht zum Erliegen gekommen, sie schliefen aber ebenso schnell ein wie Marga und Werner.
Am nächsten Morgen saßen sie alle um 8.00 h beim Frühstück, Christine und Peter waren schon um 6.00 h wach geworden und Werner hatte sie angezogen und war mit ihnen nach draußen gegangen. Auch Gerlinde, Sven, Peter und Daniel waren schon wach, sie blieben aber bei den Eltern im Zimmer. Werner ging mit seinen beiden Kleinen noch vor dem Frühstück an die Gracht, und die Kinder konnten ihre Augen nicht von den Schiffen und dem Treiben auf dem Wasser lassen. Er setzte sich mit ihnen eine Zeit lang an das Grachtufer und hatte ein Auge auf sie. Sie nahmen kleine Steinchen, die sie von der Ufermauer aufhoben und warfen sie ins Wasser, bis Werner dem Treiben ein Ende bereitete und mit seinen Kindern zu Goldschmids zurücklief. Dort roch es schon aus der Küche nach gebratenem Speck, Agnes und Bärbel standen in der Küche und bereiteten eine Menge Rürhei. Die anderen saßen am Tisch, und die Kinder spielten mit Autos und kleinen Puppen, die Agnes und Robert ihnen geschenkt hatten, alle wünschten sich einen guten Morgen.
„Wie habt Ihr denn geschlafen?“, fragte Agnes die jungen Eltern und Gerda antwortete:
„Ich habe geschlafen wie ein Stein, und erst als gegen sechs Gerlinde und Sven anfingen zu quengeln, bin ich auch wach geworden, und Siegfried und ich haben die beiden zu uns ins Bett geholt.
„Als unsere Kinder wachgeworden sind, wollten sie sofort angezogen werden und raus, ich bin mit ihnen zur Gracht gegangen, die hat sie von Anfang an fasziniert“, sagte Werner.
„Ihr habt wieder Rührei gemacht, das erinnert mich total an die alten Zeiten, als wir in der Tuinstraat immer Rührei zum Frühstück gegessen haben“, sagte Marga. Und zu Bärbels Freude standen auch zwei Pakete Hagelslag auf dem Tisch, „ich habe damals zwei Pakete Hagelslag am Bahnhof gekauft und mit nach Hause genommen, seitdem bin ich davon nicht mehr losgekommen, ich habe im Moment in Essen aber große Schwierigkeiten, an Schokoladenstreusel zu gelangen.“ Agnes hatte für die Kinder Kakao gekocht, den es zu Hause nicht zu kaufen gab, keines der Kinder hatte jemals in seinem kurzen Leben schon Kakao getrunken, und sie schauten ganz verdutzt auf die Becher, in die Agnes den Kakao gefüllt hatte, er war noch heiß und die Mütter pusteten, bis er so weit abgekühlt war, dass die Kinder ihn probieren konnten. Sehr vorsichtig nahmen sie jeder einen ganz kleinen Schluck und schmeckten ihn im Mund. Sie waren gleich Feuer und Flamme von dem Kakao und ließen sich ihren Becher von ihren Müttern immer wieder zum Mund führen, bis jedes Kind einen ganzen Becher getrunken hatte und Agnes neuen Kakao kochen musste. Bis der fertig war, gab es für die Kinder weiches holländisches Brot mit Hagelslag, und auch das mochten sie sehr, denn die Schokoladenstreusel waren süß. Die Erwachsenen hielten sich zunächst nur an das Rührei mit Speck und konnten nicht genug davon bekommen. Die Kinder probierten von dem Ei, mochten es aber nicht. In dem Moment kam Agnes mit einem neuen Kakao für die Kinder, und die Mütter pusteten wieder, bis er so weit abgekühlt war, dass sie ihn trinken konnten.
Danach tranken sie in großen Schlucken, als ihre Mütter ihnen die Becher hinhielten, und die Mütter kamen kaum dazu, selbst etwas zu essen. Bärbel und Agnes lösten die jungen Mütter ab, und die Kinder blickten zunächst befremdet, als die alten Frauen sie füttern wollten, ließen es aber mit sich geschehen. Als Marga sich eine Schnitte mit Orangenmarmelade bestrich und Christine neugierig schaute, was ihre Mutter da aß, ließ Marga sie probieren. Das Ergebnis waren ein angewidertes Gespucke und Gehuste, die Orangenmarmelade schmeckte eben leicht bitter und war deshalb längst nicht nach jedermanns Geschmack, am wenigsten nach dem der Kinder. Also beließ man es bei den Kindern mit Kakao und Hagelslag, der Kakao hatte ja auch seine Nährwerte. Die Erwachsenen tranken guten holländischen Kaffee, „bei uns zu Hause Kaffee zu bekommen ist sehr schwer, und der Bohnenkaffee ist immens teuer, wir müssen uns mit Zichorienkaffee behelfen, der natürlich unvergleichlich viel schlechter schmeckt“, sagte Manfred. Die jungen Leute aßen, als hätten sie seit Monaten nichts gehabt, und Agnes fragte:
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