„Hier wären Robert und ich beinahe eingezogen, wir haben uns damals dieses Haus angesehen, es aber für zu klein befunden, weil Robert seine Praxis mit im Haus haben wollte.“ Gerda entgegnete:
„Da könnt Ihr ja froh sein, dass Ihr Euer schönes Haus in der Keizersgracht genommen habt, das ist wirklich wunderschön, und man kann es mit diesem hier nicht vergleichen!“
Sie liefen über die Herengracht und den Singel, bis sie über den Dirk-van-Hasseltssteg zum Damrak kamen, das war bis dorthin für die Kinder schon ein anständiger Marsch. Sie wandten sich dort nach rechts und kamen zur ehemaligen Börse, die jungen Leute fühlten sich an alte Zeiten zurückerinnert, als sie den Damrak entlang geschlendert und anschließend in den „Bijenkorf“ gegangen waren. Die Mädchen hatten dort gleich die Abteilung für Damenoberbekleidung angesteuert und in den Sachen herumgestöbert.
„Sollen wir nicht alle in den „Bijenkorf“ gehen?“, fragte Petra, sie gab sich die Antwort auf ihre Frage direkt im Anschluss selbst, als sie in die Runde blickte und die geschafften Kinder sah, was sollten sie aber auch alle in dem Kaufhaus? Von den jungen Eltern hatte jeder ein Kind auf dem Arm und trug es den Rest des Weges wieder nach Hause. Sie liefen am Königspalast vorbei in die Raadhuisstraat, überquerten wieder die beiden Grachten und bogen an der Keizersgracht rechts ab, danach waren sie schnell wieder zu Hause. Die Kinder gähnten und schliefen in den Armen der Eltern schon beinahe ein.
„Bevor Eure Kinder sich in die Betten abmelden, sollten sie aber noch etwas essen!“, sagte Agnes zu den jungen Eltern. Sie verschwand mit den Müttern in die Küche und bereitete dort zusammen mit ihnen etwas für die Kinder zu. Die Großen würden einen Grillabend veranstalten, das Grillen war das Unproblematischste, wenn alle etwas essen wollten, und niemand brauchte sich in die Küche zu stellen und aufwändig kochen.
Für die Kinder gab es eine Art Obstbrei mit Haferflocken, den sie gern aßen und der gut sättigte, jedenfalls stopften sie den Brei widerspruchslos in sich hinein, und die Mütter und Väter hatten keine Probleme damit, ihre Kinder zu füttern. Sie saßen noch eine Zeit zusammen, bis das Gähnen der Kinder so stark überhand nahm, dass die Mütter sie sich schnappten und mit ihnen nach oben auf die Zimmer gingen. Dort zogen sie sie aus und legten sie in die Betten, und sie brauchten nicht einmal eine Geschichte zu erzählen. Sie sangen gerade einmal die erste Strophe von „Hänschen klein...“, und die Kinder waren eingeschlafen. Als sie wieder nach unten gegangen waren, hatte Robert schon den Grill aufgebaut und die anderen hatten Agnes dabei geholfen, aus der Küche alles für das Grillen nach draußen zu bringen. Robert steckte das Papier an, das er unter die dünnen Holzspäne gelegt hatte, für die er vorher gesorgt hatte und die im Nu aufloderten und zu knistern anfingen. Kurze Zeit später nahm er den Sack mit der Holzkohle und schüttete daraus etwas auf das Feuer, er achtete darauf, dass er die Flammen nicht erstickte und wartete, bis die Holzkohle gut durchgeglüht war. Erst danach nahm er noch einmal den Holzkohlensack und gab eine ordentliche Portion auf die Glut. Inzwischen stand ein Kartoffelsalat auf dem Tisch, den Agnes und Doris vorbereitet und sich dabei große Mühe gegeben hatten, sie hatten zu den Kartoffeln noch Gurken, Frühlingszwiebeln, Äpfel und Radieschen gefügt und die Majonäse selbst angerührt.
Gerda und Siegfried waren schnell zum Bäcker gelaufen und hatten frisches Baguette gekauft. Es gab noch Senf und Ketchup, das Fleisch hatte Agnes am Vortag bei ihrem Metzer bestellt und am Morgen abgeholt. Robert hatte für die Frauen Wein aufgemacht und den Männern jeweils ein Bier hingestellt, als Petra sagte:
„Ich trinke zu Hause auch schon mal ein Bier, aber wenn Du für uns Wein vorgesehen hast, ist mir das auch recht!“ Plötzlich meldete sich Piet zu Wort, stand auf und erhob sein Glas:
„Liebe deutsche Freunde, so nenne ich Euch trotz aller Schande, die Euer Land über und gebracht hat, aber ich kenne Euch seit früher, und Ihr seid mir ans Herz gewachsen, seid in Holland recht herzlich willkommen und fühlt Euch wohl bei uns!“ Alle hoben ihr Glas und stießen mit Piet an, seine Worte hatten in den Ohren des Besuchs etwas Warmes und Wohltuendes, und sie kamen sehr gut an.
„Werner, Du musst noch einmal hochgehen und bei den Kindern hören, ob sie auch alle schlafen!“, sagte Marga, und Werner ging ohne ein Wort des Widerspruchs nach oben und kam ganz kurze Zeit später wieder zurück.
„Die schlafen alle wie die Murmeltiere“, sagte er und setzte sich wieder zu den anderen. Robert hatte inzwischen für alle ein Stück Fleisch aufgelegt, sie mussten nicht lange warten bis es gar war, und er gab jedem ein Stück auf seinen Teller. Danach stand Robert auf und hielt eine Kurzansprache:
„Ihr Lieben, ich freuen mich zusammen mit den anderen Großeltern über den Besuch unserer Kinder und Enkelkinder, ich weiß, dass Ihr zu Hause eine schlimme Zeit durchstehen müsst, aber Ihr seid noch jung und nicht schlecht gestellt, Ihr werdet die Zeit ohne große Probleme hinter Euch bringen, ich wünsche Euch dafür jedenfalls die nötigen Energiereserven und alles Gute!“ Robert erhob sein Glas und stieß mit allen an, bevor er ausrief:
„Und nun lasst es Euch schmecken!“, und alle aßen mit ziemlichem Hunger von dem guten Fleisch und nahmen von dem köstlichen Kartoffelsalat und dem Baguette. Bärbel meinte:
„Ich fühle mich bei Euch wie im Paradies!“, woraufhin Piet einwarf:
„Das kann ich gut verstehen, wenn Du aus dem zerstörten Deutschland in das intakte Holland gekommen bist!“ Er wollte gerade loslegen und mit einer provokanten Thesen eine Diskussion vom Zaun brechen, aber Iris sah ihn mit drohendem Blick an, und Piet schwieg. Er würde sich das für den späten Abend aufheben, wenn sie mit dem Essen fertig wären. Den anderen war schon klar, dass Piet nichts von seinem alten Habitus eingebüßt hatte, mit dem er seine Provokationen vorbrachte und die Gemüter aller Diskussionsteilnehmer bis zum Kochen hochtreiben konnte. Sie sahen einem Gesprächsabend entgegen, bei dem die Jungen den Alten erzählen sollten, wie es sich in Deutschland unter dem Besatzungsregime lebte.
Als alle zwei Stücke Fleisch gegessen hatten, was für die Frauen ungewöhnlich war, aber sie hatten sehr viel Hunger entwickelt, holte Robert die Schnapsflasche und fragte, wer von den Anwesenden einen Cognac trinken wollte. Bei den jungen Männern regte sich auf seine Frage hin niemand, Schnaps war bei ihnen seit eh und je verpönt. Nur Bärbel und Piet gaben zu verstehen, dass sie gern eine Cognac hätten, und Robert schüttete jedem ein Gläschen voll. Er nahm sich selbst auch einen Cognac, die drei führten ihre Gläschen zum Mund und kippten den Schnaps in eins hinunter.
„So geht es einem schon besser!“, sagte Robert danach, wie man es immer tut, wenn man einen Schnaps in sich hineingeschüttet hat und er fragte, ob er noch einmal nachschenken sollte. Bärbel und Piet ließen sich einen zweiten Cognac geben und tranken auch den auf ex. In der Zwischenzeit waren die anderen damit beschäftigt, das Geschirr und die Essensreste in die Küche zu bringen und dort abzustellen.
„Spülen können wir Morgen noch!“, sagte Agnes, nahm ein paar Knabbereien und schloss die Küchentür hinter sich. Draußen auf der Terrasse legte sie Nüsse und Salzstangen auf die beiden Tische und fragte, ob jeder noch genügend zu trinken hätte, worauf Robert entrüstet sagte:
„Aber Agnes, darum kümmere ich mich schon!“ Es dauerte nur eine kurze Zeit, bis sich alle wieder gesetzt hatten und Piet mit einem Male sagte:
„Ich würde als Besatzungsmacht die Deutschen spüren lassen, was es heißt, andere Völker zu unterwerfen und Krieg gegen sie zu führen!“ Er war sich natürlich völlig darüber im Klaren, dass er provozierte und wollte damit auch nur ein Gespräch einleiten, die Provokation war in keiner Weise böse gemeint und wollte niemanden verletzen.
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