keine Einigung über die territoriale Zukunft Deutschlands, Verhaftung und Bestrafung der Kriegsverbrecher, Reparationen, die UdSSR erhielt 50 % der von Deutschland zu zahlenden Reparationen, Bildung einer französischen Zone, die von den beiden zu schaffenden Westzonen abgetrennt werden sollte, Einrichtung eines alliierten Kontrollrates, der aus den vier Oberkommandierenden bestehen und seinen Sitz in Berlin haben sollte, und dessen Beschlüsse einstimmig gefasst werden sollten, er sollte über die Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten bestimmen. Stalins Deutschlandhaltung änderte sich nach der Jalta-Konferenz radikal: sein Maximalziel bestand nun in einem gesamtdeutschen kommunistischen Einheitsstaat, sein Minimalziel in einem kommunistischen Teilstaat, wie er ihn später mit der sowjetischen Besatzungszone verwirklichte. Den jungen Familien Goldschmid, Theißen und Lamprecht, wie Gerda jetzt mit Nachnamen hieß, stellten sich in der „Stunde Null“ ganz andere Probleme. Es war aber nicht so, dass sie sich nicht für das interessierten, was um sie herum geschah, aber sie wurden von den Alltagsproblemen bedrängt, wenngleich sie über ausreichend Geld verfügten, um sich Nahrung und Kleidung zu beschaffen. Am schwersten war es für Gerda, Siegfried und deren Kinder. Die beiden Eltern bekamen mit ihrer Therapiepraxis so recht kein Bein auf die Erde, zumindest am Anfang nicht.
Es gab in der Folge der unvorstellbar grausamen Kriegsereignisse genügend seelisch zerrüttete Menschen, die unbedingt einer Therapie bedurft hätten, eine Therapie kostete aber Geld. Das bisschen Geld, das die Menschen besaßen aber für eine Therapie einzusetzen, sahen sie nicht ein. So behalfen sich Gerda und Siegfried im Jahre 1945 damit, Nachhilfestunden zu geben und an ihrer alten Hochschule als Tutoren zur Verfügung zu stehen, damit sie wenigstens Geld für die grundlegenden Dinge des Lebens hatten. Die „Stunde Null“ bedeutete chaotische Zustände in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens:
Die Städte lagen in Schutt und Asche, gerade auch Essen, die Trümmerfrauen bestimmten das Straßenbild, große Teile der Bevölkerung waren vertrieben, vermisst, verwundet oder getötet, Familien waren zerrissen, Millionen waren nach ihrer Vertreibung aus dem Osten obdachlos, Wirtschaft und Infrastruktur waren weitestgehend zusammengebrochen, die Versorgung der Bevölkerung, die Essen, Wohnung und Arbeitsplätze mit den Flüchtlingen teilen mussten, konnte nur unzureichend gewährleistet werden , die Industrie erreichte nur einen Bruchteil der Vorkriegsproduktion wegen der Zerstörungen, des Mangels an Arbeitskräften und der schlechten technischen Ausstattung, es fehlte jedwede politische Steuerung, sodass diese Dinge in die Hände der Alliierten gelegt waren.
Der Zweite Weltkrieg hatte sechzig Millionen Tote gefordert, fünfunddreißig Millionen Verwundete und drei Millionen Vermisste, die UdSSR allein hatte zwanzig Millionen Tote zu beklagen. Wie sah nun der Alltag für die jungen Familien aus, wie nahmen sie ihre Erziehungsaufgaben gegenüber den Kindern wahr, wie übten die Erwachsenen ihre Berufe aus?Das härteste Los hatten, wie schon oben erwähnt, Gerda und Siegfried, die sich mit ihrer Nachhilfe so gerade über Wasser halten konnten und sich in der Erziehung von Gerlinde und Sven, wie ihre Kinder hießen, abwechselten, was sich relativ problemlos managen ließ. Sie besaßen ein Fahrrad, mit dem sie sich vorwärts bewegten, was in dem bergigen Göttingen nicht so einfach war. Aber Geld für ein Auto hatten sie nicht, sie lebten mit ihren Kindern in einer kleinen Wohnung zur Miete und kochten und heizten mit Kohleöfen. Sie hofften auf bessere Zeiten, die sich für sie sicher ab dem nächsten Jahr einstellen würden, wenn sich die Verhältnisse in Deutschland so weit wieder konsolidiert hätten. Marga und Werner schickten ab und zu ein Paket an Gerda und Siegfried, in das sie vornehmlich Lebensmittel gelegt hatten, und das die beiden dankbar annahmen. Gerlinde und Sven waren noch so klein, dass sie von dem ganzen Elend, das sie umgab, nichts mitbekamen. Marga fuhr mit dem Rad zum Goethe-Gymnasium und versah ihren Dienst als Studienrätin sehr gern. Sie war sich im Klaren darüber, dass sie es bei ihren Schülerinnen und Schülern mit Kindern aus den oberen Gesellschaftsschichten zu tun hatte, denn der Besuch des Gymnasiums kostete Schulgeld.
Werner setzte sich morgens in seinen VW und fuhr eine Stunde nach Düsseldorf zur Universität. Er musste über Werden fahren, um die Ruhr zu überqueren. Niemals fragte er sich, was die Menschen in ihrer großen materiellen Not mit Philosophie anfangen sollten, was etwa half die Kant´sche „Kritik der reinen Vernunft“ gegen den bohrenden Hunger, der die Studenten plagte? Um Christine und Peter, wie ihre beiden Kinder hießen, kümmerte sich Oma Bärbel liebevoll. Am frühen Nachmittag, spätestens gegen 13.30 h war Marga wieder zu Hause und erlöste ihre Schwiegermutter von ihren Erziehungsaufgaben. Bärbel Theißens Mann Georg war schon seit vielen Jahren tot, er ist nach dem Weltkrieg einem Lungenleiden erlegen. Oftmals war Werner auch schon um diese Zeit zu Hause, wenn er keine Nachmittagsveranstaltung hatte. Bei Petra und Manfred sah die Sache anders aus, sie hatten beide eine Praxis zu betreuen, Petra nur mit halber Stundenzahl, damit sie Zeit für ihre Kinder Peter und Daniel hatte, um die sich während Petras Abwesenheit eine Kinderfrau kümmerte. Petra hatte in ihrer Praxis gar nicht so viel zu tun, und es gab kaum Patienten, die mit ihren Tieren kamen. Sie wurde oft zu naheliegenden Bauernhöfen gerufen, um Kühen beim Kalben zu helfen. Bei Manfred brummte die Praxis, die Menschen litten unter den Krankheiten, die die Zeit so mit sich brachte, es gab mangel- oder fehlernährte Kinder, Atemwegserkrankungen, TBC, Würmer etc. Wenn Manfred abends nach Hause kam, war er geschafft.
In Ausnahmefällen, wenn die Kinderfrau einmal krank war, brachten sie Peter und Daniel schon mal zu Frau Theißen, der es nichts ausmachte, auch noch auf die beiden anderen Kinder aufzupassen, das kam aber zum Glück nur selten vor. Im Sommer 1945 stand ein Treffen in Amsterdam an, bei dem sich alle versammeln wollten, die zu dem Familienclan gehörten. Die Eisenbahnstrecke war wieder repariert und konnte befahren werden. Gerda und Siegfried nahmen mit ihren Kindern den Zug über Hannover, der sie direkt nach Amsterdam brachte, sie hatten den weitesten Weg. Die Zugfahrt von Essen nach Amsterdam dauerte nur vier Stunden, bei den zu der Zeit vollzogenen Gleisbauarbeiten konnte sie aber auch länger dauern. Marga und Werner hatten Sommerferien bzw. Semesterferien, Gerda und Siegfried hatten während der Sommerferien keine Nachhilfe und in den Semesterferien kein Tutorium, Petra und Manfred hielten ihre Praxen für vierzehn Tage geschlossen, David Zuckerberg würde in der Zeit die Patienten für Manfred mit versorgen. Es war Anfang Juli 1945, ein herrlicher Sommertag und reichlich heiß, wenn man in den strahlend blauen Himmel blickte, konnte man alles um sich herum vergessen, man schloss anschließend die Augen und wähnte sich im schönsten Sommerurlaub. Sobald man seine Augen aber wieder öffnete und sich umsah, hatte einen die traurige und niederschmetternde Realität wieder zurück, und man schaute über Trümmerfelder und in die ausgemergelte Gesichter von Menschen, die in abgerissener Kleidung steckten und hungerten.
Wenn sie in Amsterdam angekommen wären, hätte Peter kurze Zeit später seinen dritten Geburtstag. Was mochte so einem kleinen Erdenbewohner wohl durch den Kopf gehen, wenn er das gesamte Elend betrachtete? Aber Peter war wohl noch zu klein, um die Not in ihrer gesamten Ausprägung richtig einzuschätzen oder etwas ändern zu können.
„Habt Ihr ein Geschenk für Peter mitgenommen?“, fragte Marga Petra und Manfred im Zug und Petra antwortete:
„Ich habe im letzten Moment noch daran gedacht, dass der kleine Kerl auch schon drei Jahre alt wird und ihm etwas zum Spielen besorgt.“
Читать дальше