Bärbel, die mit nach Amsterdam fuhr, war eigens noch in die Stadt gefahren, um dem kleinen Peter ein Geschenk zu kaufen. Der Dampfzug fuhr bedächtig seine Strecke und musste gelegentlich abbremsen und manchmal sogar halten, wenn es die Gleisbauarbeiten erforderten. Das Ruhrgebiet war eine einzige Trümmerwüste, die vier Erwachsenen schauten gar nicht groß aus dem Abteilfenster, und die Kinder interessierte ohnehin nicht, was sie da zu sehen bekamen. Die Eltern mussten daran denken, wie sie in der Vorkriegszeit mit diesem Zug gefahren waren, und Marga fragte in die Runde:
„Wisst Ihr noch, wie wir uns immer vor dem Grenzübertritt gefürchtet haben, weil die Grenzer so unverschämt gewesen sind und sich aufgespielt haben?“ Natürlich erinnerten sich alle ganz genau an dieses absurde Schauspiel, das sich ihnen damals immer geboten hatte, und Werner meinte:
„Schlimm waren auch immer die Begegnungen mit den SA-Männern, die gleich zu Schlägereien aufgelegt waren, ich weiß noch genau, wie Manfred und ich damals im Zug beinahe eine Schlägerei bekommen hätten, wenn die SA-Tölpel nicht in Wesel hätten aussteigen müssen.“ Manfred und Werner waren beide Soldaten gewesen, machten darum aber nie viele Worte, weil ihre Kriegserlebnisse zu schrecklich gewesen waren. Manfred ist trotz seiner jüdischen Abstammung als Lazarettarzt an der Ostfront gewesen und hat dort unter den erbärmlichsten Bedingungen operieren müssen. Das Grauen, das ihm während dieser Zeit zu Gesicht gekommen war, war unbeschreiblich. Manfred stumpfte aber ab und war am Ende nicht mehr sensibel genug, um die Schrecknis in ihrer ganzen Härte an sich heranzulassen. Werner war zuerst als Heeressoldat in Frankreich und ist im Anschluss wegen seiner rudimentär vorhandenen Russischkenntnisse an die Ostfront gelangt. Sowohl Werner als auch Manfred hatten den Krieg von Anfang bis zum Ende als Soldaten mitgemacht, sie waren nicht an ihren schlimmen Erlebnissen zerbrochen, weil sie von ihrem Naturell her gut ausgestattet waren und über genügend psychische Abwehrkräfte verfügten. Sie sahen ihre Frauen und später ihre Familien nur, wenn sie Urlaub bekommen hatten.
Wie schwer danach immer der Abschied war, kann kaum jemand nachvollziehen. Auf dem Weg bis zur holländischen Grenze kamen mehrmals britische Soldaten in ihr Abteil und musterten die Reisegruppe argwöhnisch. Sie befanden sich in der britischen Besatzungszone und die britischen Soldaten hatten dort das Sagen. Es wurde kein Wort gewechselt, weil die Devise „no fraternization“ galt, und die wurde zumindest am Beginn der Besatzungszeit strikt eingehalten. Vor dem Passieren der Grenze wurde die Reisegruppe von den Soldaten ordentlich gefilzt und jeder dachte in diesem Augenblick, dass sich im Grunde nichts geändert hätte, die Soldaten trugen nur andere Uniformen. Schließlich wurden sie mit strengem Tonfall gefragt, wohin sie reisten, bevor die Soldaten den Reisenden ihre Papiere wieder zurückgaben und das Abteil verließen. Immerhin warfen sie dabei die Abteiltür nicht ins Schloss, wie das die Nazi-Zöllner immer getan hatten. Die Kinder hatten sich während der ganzen Zeit ruhig verhalten, und auch als die holländischen Zöllner in ihr Abteil kamen, um ihre Papiere zu kontrollieren, regten sie sich nicht. Die Holländer blickten mit feindseligen Augen in die Runde, die deutsche Besatzung der Niederlande war erst seit geraumer Zeit vorüber, genau gesagt seit dem 5. Mai 1945. Es hatte sich ein Hass gegen alles Deutsche aufgestaut, den die Zöllner aber zurückhielten. Den Kindern war die Feindseligkeit der Zöllner aber nicht entgangen, und sie fingen an zu weinen, als der Zug schon längst die Grenze passiert hatte. Marga und Petra nahmen ihre Kinder in die Arme und trösteten sie, bis sie sich wieder beruhigt hatten und aus dem Fenster schauten.
Der Blick, der sich ihnen dort bot, war ein gänzlich anderer als der Blick auf der deutschen Seite. Sie durchfuhren eine völlig intakte bäuerliche geprägte Landschaft, alles strotzte nur so von Gesundheit und Sauberkeit, und wenn sie in den wenigen Bahnhöfen hielten, die bis Amsterdam auf ihrem Weg lagen, zeigte sich ihnen ein quirliges Bild von vergnügten Menschen. Man hätte nicht glauben mögen, dass sie bis vor Kurzem noch unter der Knute der Deutschen hatten leben müssen. Die völlig veränderte Stimmung hatte sich gleich auf die Zugfahrgäste übertragen, die Kinder und auch die Erwachsenen lachten und waren guter Dinge. Als der Zug in der Centraal Station in Amsterdam hielt, sprangen alle auf den Bahnsteig, die Kinder tollten nach der langen Zeit des Sitzen herum und mussten von den Erwachsenen zur Räson gebracht werden. Bärbel sagte:
„Lasst die Kinder doch toben, sie haben doch lange genug sitzen müssen!“ Aber es war zu gefährlich, die Kinder auf dem Bahnsteig herum hetzen zu lassen, und sie störten dabei auch die anderen Leute. Petra, Marga, Werner und Manfred erinnerten sich noch wie sie früher auf dem Bahnsteig gestanden und sich zum Abschied geküsst hatten. Max, Margas Vater, war gekommen, um alle abzuholen, und als er seine Tochter vor sich stehen sah, überkam ihn eine riesige Freude, sie so gesund wiederzusehen, und er drückte und küsste sie, bevor er auch alle anderen in seine Arme schloss, besonders die Kinder.
Margas Kinder kannten ihren holländischen Opa ja gar nicht und taten sehr scheu, als sich der fremde alte Mann so aufdringlich zeigte und sie umarmen wollte. Erst als Marga ihnen durch gutes Zureden die Scheu genommen hatte, ließen sie die Umarmung des Opas zu. Max hatte auf dem Bahnhofsvorplatz geparkt, er fuhr immer noch einen Renault, allerdings seit damals den dritten, der moderner ausgestattet war als die Vorgängermodelle, vor allem aber einen stärkeren Motor hatte. Die beiden Essener Familien standen auf den Bahnhofsvorplatz und schauten sich um, sie sahen eine völlig unzerstörte und schöne Stadt vor sich liegen, die etwas Sauberes und Properes ausstrahlte, jeder musste sich bei ihrem Anblick gleich wohlfühlen. Max lud das Gepäck der Reisegruppe in den Kofferraum, und alle zwängten sich in den Wagen, die Kinder nahmen sie auf ihren Schoß. Sie fuhren in die Keizersgracht zu Gerdas und Manfreds Eltern, weil bei ihnen der meiste Platz für alle vorhanden war.
„Und wie geht es Dir so?“, fragte Max Bärbel und Bärbel antwortete:
„Wie soll es mir schon gehen, uns geht es in Deutschland allen schlecht, wobei ich eigentlich nicht groß klagen darf, ich bin gegenüber den meisten anderen noch ganz gut dran!“ Das riesige alte Bürgerhaus, über das Goldschmids in der Keizersgracht verfügten, bot wirklich für alle Raum. Als sie in die Keizersgracht eingebogen waren, parkte Max den Wagen direkt vor Goldschmids Haus, wo sie alle wie ein Empfangskomitee standen und auf sie warteten. Sie strahlten über alle Backen, als die jungen Essener Familien und Bärbel aus Max´ Wagen stiegen und sie sie begrüßen konnten.
Es hatte sich der gesamte Familienclan dort versammelt, das hieß, dass neben den Goldschmids auch Doris, Margas Mutter, die Gerrits, Petras Eltern und Gerda und Siegfried mit ihren Kindern vor dem Goldschmid-Haus aufhielten. Iris und Piet Gerrits nahmen ihren Tochter und ihre Familie in den Arm und freuten sich, dass sie ihren Anhang einmal wiedersehen konnten. Aber auch Gerdas Kinder fremdelten, als die holländische Oma und der holländische Opa ihnen zu nahe kamen. Gerda war mit ihrer Familie zwei Stunden vor den Essenern in Amsterdam eingetroffen. Das Hauptaugenmerk aller Großeltern lag natürlich auf ihren Enkelkindern und die flüchteten sich in die Arme ihrer Mütter, als die Alten auf sie losstürmten. Es dauerte eine Zeit, bis sie auftauten und sich der allgemeinen Begrüßungszeremonie anschlossen, sie hielten sich mit einer Hand aber immer noch am Rockzipfel ihrer Mutter fest. Als sie aber ihre Anfangsfurcht vor den vielen fremden Menschen überwunden hatten, packte sie doch die Neugier, sie liefen an das Grachtenufer und blickten auf die Schiffe, die dort lagen. Das war der Moment, in dem man kein Auge von ihnen lassen durfte, es wäre nicht auszudenken gewesen, wenn eines der Kinder in die Gracht gefallen wäre. Nach und nach gingen sie ins Haus und allen fiel auf, wie geschmackvoll Agnes ihre und Roberts Bleibe eingerichtet hatte.
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