„Womit der Verdacht auf Fremdverschulden nun seine Begründung erfahren hat“, murmelte Sparacio. „Ich danke Ihnen, Dottore, dass Sie mir die Zeit gelassen haben“, sagte er nun laut und er meinte es ehrlich. Vielleicht würde sich dieses kleine Merkmal ja zu einem Hinweis entwickeln. „Sie haben etwas gut bei mir.“
„Ich werde darauf zurückkommen“, grinste Santos, der im Begriff war, ein neues Paar Gummihandschuhe überzustreifen. „Ein Barolo wäre gut, vielleicht in den nächsten Tagen am Tiberufer?“
„Barolo ist okay“, antwortete Sparacio. „Doch die Örtlichkeit … ich glaube, darüber reden wir noch.“
Als Sparacio in seinem Büro ankam, war es kurz nach siebzehn Uhr. Sciutto hatte fertig gegessen und unterhielt sich mit Carla. Als Sparacio eintrat, erhob er sich geflissentlich.
„Commissario, ich habe, Ihre Erlaubnis vorausgesetzt, in den Vermissten-Akten gelesen. Einige sind dabei, die können wir ignorieren. Haben sich zum Teil erledigt, da es sich um Frauen handelt.“
„Woher wissen Sie, dass die Leiche ein Mann ist, Sergente?“, antwortete Sparacio amüsiert. „Ich habe mit Ihnen nicht darüber gesprochen.“
„Aber, Commissario, die Leiche im Baum, das war doch keine Frau. Die Größe, die Figur …“
„Die Leiche war aufgebläht, das ist bei Männern und Frauen der Fall. Ich glaube nicht, dass man dann noch einen Unterschied feststellen kann.“
„Aber …“
„Es ist alles okay, Sergente. Die Leiche ist ein Mann. Ich bin froh, dass Sie mir einen Teil der Arbeit abgenommen haben.“
Dann wandte er sich an seine Sekretärin. „Carla, würden Sie mich bitte mit meiner Frau verbinden.“ Er sah auf seine Uhr, obwohl er die Zeit wusste. „Eigentlich müsste sie schon zu Hause sein. Die Nummer befindet sich im Terminkalender auf meinem Schreibtisch.“
„Ich soll …?“
„Ja, Sie sollen. Stehen keine Geheimnisse drin. Wenn Sie sie erreicht haben, verbinden Sie.“
Sparacio ließ sich auf seinen Stuhl fallen und griff nach dem Stapel der Vermisstenfälle. Seit der Eröffnung der neuen Dienststelle war keine Vermisstenanzeige erstattet worden. Wenn eine solche vorläge, müsste sie in diesem Stapel zu finden sein. Was aber, wenn es für diesen Fall keine Vermissten-Meldung gäbe?
Gibt es Menschen, die niemand vermisst?
Nur in den seltensten Fällen. Man würde sehen. Auf jeden Fall würde er heute Überstunden machen.
„Halten Sie hier“, wies Accolito den Taxifahrer etwa 300 Meter vor der Basilika Sancti Laurentii in Damaso an. „Ich wohne in der Nähe“, fügte er hinzu, denn niemand sollte auch nur erahnen können, was sein eigentliches Ziel war. Wenn man irgendwann später einmal den Taxifahrer befragte, würde er keinen Bezug zu dem Gotteshaus konstruieren können. Der Fahrgast hat in der Via del Paradiso das Taxi verlassen, Commissario. Er sagte, er wohnt in der Nähe.
Accolito schritt durch die Gassen bis zur Piazza della Cancelleria und betrat das Gotteshaus San Lorenzo in Damaso, eine der Basiliken in Rom, die dem römischen Diakon und Märtyrer Laurentius von Rom geweiht sind, durch das kleinere rechte Portal der Hauptfassade des Palazzo della Cancelleria. Seine Blicke schweiften über die erste Kapelle auf der rechten Seite mit den Heiligen Philipp Neri und Nikolaus von Sebastiano Conca, zu der ersten Kapelle auf der linken Seite mit dem Letzten Abendmahl von Vincenzo Berrettini.
Accolito erinnerte sich an die Worte des Meisters und schenkte dem Kirchenschiff mit den Statuen der Heiligen Franziskus Xaverius und Karl Borromäus von Stefano Maderno keine Beachtung, sondern wandte sich dem rechten Schiff mit dem Denkmal für Gabriella di Savoia Massimo von Pietro Tenerani zu.
Nur wenige Gläubige saßen vereinzelt in den Bänken, einige Touristen schlichen durch den Mittelgang, ehrfürchtig und die Fotoapparate schussbereit mit beiden Händen festhaltend.
Zielstrebig begab er sich zu den Bänken auf der rechten Seite, wobei seine Augen bereits jetzt schon die hinterste Bank absuchten. Unter der Gebetbuchablage, hatte der Meister gesagt. Accolito machte einen Schritt nach vorne und konnte nicht vermeiden, dass er mit dem Fuß gegen die Kniebank stieß. In seinen Ohren war der Hall des Aufpralls wie eine Explosion, die in der großen Halle langsam verebbte. Regungslos verharrte er und sah mit gefalteten Händen zum Altar hinüber und erweckte so den Anschein, als habe er schon die ganze Zeit hier gestanden und gebetet. Doch niemanden schien das Geräusch gestört zu haben.
Accolito wartete noch einen Moment, dann hielt er seine Hand mit der Innenfläche nach oben, beugte sich leicht nach vorne, den Blick auf die wenigen Menschen in ihren Bänken gerichtet und tastete die Ablage von unten her ab. Er musste einige Schritte nach rechts machen, ehe er etwas an seinen Fingern spürte, was nicht hierher zu gehören schien. Es war ein Stück Papier und als er weiter tastete, spürte er den Kopf einer Reißzwecke an seiner Fingerkuppe.
Accolito schaute sich kurz um, dann riss er das Stück Papier mit einem leichten Ruck ab und steckte es, ohne einen Blick darauf zu werfen, in seine Hosentasche. Er knickte kurz in den Knien ein und schlug das Kreuzzeichen. Dann verließ er die Kirche und marschierte zu Fuß in östliche Richtung, dorthin, wo er derzeit vorübergehend Wohnung bezogen hatte.
Als er die Kirche ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte, fischte er den Zettel aus seiner Hosentasche. Als er den Namen darauf las, lächelte er zufrieden. Er würde den Auftrag ausführen, schon bald, vielleicht heute Abend noch, oder morgen. Doch als Erstes führte ihn sein Weg in seine Behausung. Dort wollte er entspannen, sich vorbereiten für den Auftrag. Sein Meister würde stolz auf ihn sein.
Es war spät geworden an diesem Abend. Sophia schlief bereits, als Sparacio auf Zehenspitzen seine Wohnung betrat. In den vergangenen Stunden hatte er die Vermissten-Fälle, die Sciutto ausfindig gemacht hatte, durchgesehen, doch eine Verbindung zu dem Toten aus dem Baum am Tiber ließ sich auf den ersten Blick nicht herstellen. Die Akten betreffend dreier vermisster Frauen hatte er gleich ad acta gelegt. Dann war da noch ein Mann, der während eines Deutschland-Urlaubs von einer Gebirgswanderung nicht zurückgekehrt war -die deutschen Behörden hatten den Vorgang der italienischen Polizei als Kopie übersandt.
Es gab da noch eine Sache, in die er sich vertieft hatte, obwohl sie mit dem Fall nichts zu tun haben konnte. Ein Junge, gerade vierzehn Jahre alt geworden, war seit rund zwei Wochen verschwunden. Er wohnte im östlichen Stadtteil von San Lorenzo, und schien, so sagten es die Akten aus, aus ärmlichen Verhältnissen zu stammen. An einem Montag war er nach der Schule nicht nach Hause gekommen und am Abend hatten die Eltern die Vermisstenanzeige aufgegeben.
Sparacio nahm sich vor, bei der bearbeitenden Dienststelle in der Via Portuense den Stand der Sachlage zu erfragen.
Dann waren da noch drei Männer im Alter zwischen 32 und 78 Jahren, der eine seit drei, die anderen beiden seit rund zwei Wochen von ihren Angehörigen als vermisst gemeldet. Morgen würde er den einzelnen Fällen auf den Grund gehen, mit den Angehörigen sprechen, die Lebensgeschichte der Vermissten erfahren.
Für heute war es genug. Dem Toten in der Gerichtsmedizin konnte er nicht mehr helfen und für die Vermissten konnte er heute Abend nichts tun.
Sparacio streckte die Beine aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er hörte ein Geräusch hinter sich. Es war Sophia. Fast lautlos war sie zu ihm getreten, legte beide Arme von hinten über seine Schulter und schmiegte ihren Kopf an den seinen. Sofort ging ein dezenter Duft von Violetta di Parma von ihr aus.
Sparacio ergriff ihre Hände und drückte einen leichten Kuss darauf. „Habe ich dich geweckt?“, fragte er leise und streichelte ihr über das dunkle Haar, das bis auf seine Schulter fiel.
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