Gierig sog ich die unbekümmerte Atmosphäre auf. Hier war mal kein lohnenswertes Beuterevier für die grässlichen Dämonen. „So wie hier und jetzt soll und muss meine Stadt bleiben.“ Dafür würde ich alles tun.
Alexis umfasste meine Taille und zog mich enger an sich.
„ Ja, das darf ebenfalls bis in Ewigkeit so bleiben. Aber wem steht je alles zu?“
„Sei weniger pessimistisch, Lil. Gerade du solltest verinnerlicht haben, welch unerwartete Chancen das Schicksal bieten kann.“
„Ja, ich weiß. Keine Ahnung, was mich dauernd so runterzieht.“
„Aber ich weiß es. Du fürchtest dich vor einer neuerlichen Niederlage in London“, sagte er mir auf den Kopf zu.
Einem zwar kurzen, doch heftigen Ringen folgte mein Geständnis: „Ertappt. Berlin ist gefühlt sicheres Terrain. London dagegen…“
„Wir werden Hilfe von meinem Verwandten erhalten, das hast du selbst erzählt. Schon vergessen?“
Ohne seinen Einwand zu beachten flüsterte ich: „Je mehr ich liebe, desto stärker fürchte ich den Tod.“ Das beschrieb exakt meine Achillesferse. Nie zuvor in den verflossenen Jahrzehnten meines Lebens hatte ich auch nur eine Gedankensekunde an meinen eigenen Tod verschwendet. Nun bohrte sich der einmal geborene Todesgedanke wie ein Holzwurm tief in mein Hirn.
„Wäre dir dein altes Leben jetzt lieber?“, fragte Alexis tief bekümmert.
Mein Herz antwortete mit einem heftigen Schlag, gegen den Joerdis absolut machtlos war. Mitten im Getümmel blieb ich stehen, zog Alexis fest an mich und ließ ihn meine liebestrunkene Antwort in den Augen lesen.
Keine dreißig Sekunden, so lange deshalb, weil wir erst einen dunklen Hauseingang zum Verschwinden auftreiben mussten, schon landeten wir vor meinem Bett.
Gemartert von wirren Träumen – offensichtlich der Toptrend dieser Woche – rappelte ich mich auf und verließ im frühen Morgengrauen das stickige Haus.
Taufrisches Gras unter den nackten Füßen verleitete spontan dazu, mich im seidenen Nachthemd der Länge nach darauf auszustrecken. Entrückt lauschte ich der im Gebüsch singenden Nachtigall und schlief darüber prompt ein.
„ Nun guck sich das einer an, faul wie ein Mehlsack“, meckerte Elin. „Nennst du das etwa Training?“
„ Uaaah!“
„ Wenn du nichts Besseres mit deiner Zeit anzufangen weißt“, setzte die Elbe ihre Schimpftirade fort, „kannst du mich ebenso gut nachts begleiten.“
Schuldbewusst blinzelte ich gegen das aufstrebende Sonnenlicht an. Darin erschien die Elbe wie aus hauchdünnem blassrosa Marmor gemacht.
Mühsam klaubte ich zusammen: „Sei friedlich, Elin. Heute erwarten mich die Höhlen unter Burg Amhuinn.“
Besänftigt schaute sie auf mich herab. „Dann lass die Finger von dem alten Übel, dir selbst im Weg zu stehen.“
„ Vor dir bleibt auch nie etwas verborgen“, nörgelte ich grundlos hinter ihr her, bloß um das letzte Wort zu haben. Umgehend schalt mich das Alter Ego: „Tritt dich gefälligst in den Hintern und hör mit dem Gejammer auf. Das ist ja zum Weglaufen.“
„ Wo sie Recht hat…“ , erklang die Elbenstimme dünn herüber.
Mit lautem Klatschen landete meine Hand auf der Stirn. „Verdammt, die wichtige Sache mit den Amuletten!“ Der Elbe schickte ich hinterher: „Elin, wir müssen demnächst mal über unsere Amulette sprechen.“
Sofort stand sie erneut vor mir. „Worum geht es?“
„ Ich möchte, dass wir Drei jederzeit in der Lage sind, direkten Kontakt zu halten. London, du weißt schon.“
Der Umgang mit den Amuletten erfordere einige Übung , stellte die Elbe klar.
„ Brauchst du keine Pause nach der langen Nacht?“
„ Nein, nein.“ Stattdessen zog sie an ihrer Halskette.
„ Alexis sollte besser mitmachen“, überlegte ich.
„ Wenn der Herr mal aus dem Bett käme“, merkte die Elbe bissig an.
Also ohne ihn.
„ Leg das Amulett auf deine flache Hand. Konzentriere dich darauf“, begann sie mit der Gebrauchsanweisung.
Ich zog mein eigenes Amulett unter dem Nachthemd hervor und tat wie geheißen.
„ Wer stört?“ , donnerte eine tiefe Männerstimme streng.
„ Äh?! Hier ist Lilia.“ Verdattert schaute ich zur total perplexen Elin hinüber.
„ Mylady! Hocherfreut, hier Fingal MacEideard. Bitte vielmals um Verzeihung, Mylady. Ich glaubte, Lyall sei in der gebührenfreien Leitung. Aber was kann ich für Sie tun?“
Meine grauen Zellen kriegten gerade noch die Kurve und so erwiderte ich: „Besuchen Sie uns doch bitte am Wochenende auf Lightninghouse Castle. Und bringen Sie Ihren Freund Lyall gleich mit.“
„ Überaus freundlich, Mylady! Dann werden wir zum Lunch eintreffen.“
Elins Miene spiegelte eine furiose Mischung aus Frust und aufgesetzter Langeweile, als sie verkündete: „Wie ich höre, bin ich überflüssig.“
„ Nein, nein! Schließlich war ich sozusagen falsch verbunden.“
Daraufhin meinte sie nur: „Richte deine Gedanken jeweils auf die Person, mit der du dich austauschen möchtest.“ Weg war sie.
Doch wer hatte dann Fingal gerade ‚angewählt‘?
Die Macht von Elbenfürstin Joerdis nahm zu.
Ohnehin über die Maßen unruhig wegen des bevorstehenden Höhlengangs in Schottland, würgte ich am Frühstückstisch bloß ein paar Löffel Müsli mit frischem Obst herunter.
Bereits 40 Minuten vor Beginn der obligatorischen Teambesprechung lief ich auf dem Parkplatz des Kommissariats auf und ab, pflichtschuldigst auf Rachel wartend.
„ Lilia, die junge Frau macht spontan blau. Du musst zu ihrer Wohnung springen.“
„ Na super, klingt ganz nach überflüssigem Problemgebirge!“
Vor Rachels Wohnungstür läutete ich enervierend lange.
„Wer ist da?“
„Lilia. Mach auf, Rachel.“
Das Türschloss klickte und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Gerade weit genug, um in den Genuss ihrer kräftigen Alkoholfahne zu kommen. Auch das noch.
„Morgen“, nuschelte die junge Kommissarin. Sie startete einen misslingenden Versuch, den roten Haarvorhang aus ihrem Gesicht zu wischen.
Resolut zwängte ich mich an ihr vorbei in den Flur. „Geh duschen, ich kümmere mich um dein Frühstück.“
Brav tapste Rachel davon, während ich das Wohnzimmer betrat.
Magisch landeten starker Kaffee, Kopfschmerztabletten und hamburgisches Katergedeck auf dem kleinen Tisch in ihrer Essecke.
Die Lichtwesen mahnten: „Zügele deine Ungeduld.“
„ Ja, ja, meckert ruhig. Ihr da oben müsst sowieso bloß summen“ , murrte ich. Zufällig wanderten meine Augen dabei zum Couchtisch hinüber. Ein umgekipptes Glas, eine leere Colaflasche sowie eine annähernd trocken gefallene Flasche Rum kündeten vom armseligen Verlauf der letzten Nacht. Das Szenario brachte mein Gefühlsleben auf Trab, zuvorderst in Gestalt eines schlechten Gewissens. „Du hast zu vieles schleifen lassen! Also räum gründlich, aber behutsam die angehäufte Scheiße aus dem Weg.“
Wie auf das Stichwort kam Rachel, in ihren violetten Bademantel gewickelt und mit giftgrünen Plüschpantoffeln an den Füßen, aus dem Bad geschlurft. Ihre nassen Haare hinterließen eine dunkle Tropfspur auf dem sandfarbenen Teppich.
„Hi, setz dich.“
Mit gesenktem Kopf griff Rachel energisch zu Kaffee und Tabletten, Schwarzbrot und Rollmops.
Nachdem sie die erste Portion heruntergewürgt hatte, blickte sie mich von schräg unten aus blutunterlaufenen Augen an. „Kann losgehen mit deinem Anschiss.“
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