„Hey, lass mich raus! Sofort!“ klang Lilas dumpfes Rufen durch die Tür, begleitet von energischem Trommeln.
Eri blickte die Jungs an. Was sollte sie tun?
Während man Lilas verzweifelte Rufe, Schläge und Tritte von drinnen ignorierte, kam auch Eri mit dem Bitten und Betteln nicht weit, Lila frei zu lassen. Amadeo stellte sie vor die Wahl. Entweder ließ sie es zu, dass Lila gefangen gehalten wurde, um sie ihren Verfolgern auszuliefern – oder sie wurde von der Gruppe verstoßen. Der Gedanke war schlimm für Eri. Sie wusste nicht, ob sie in der Lage war, sich alleine durchzuschlagen. Irgendwann gab sie es auf.
„Vergiss das Gör mit den lila Haaren“, sagte Amadeo. „Bald sind wir sie los, und vielleicht haben wir dann einen ganzen Batzen Knete! Dann sind wir erst einmal alle Probleme los!“
„Du weißt doch überhaupt nicht, wann das passieren soll! Wie lange willst du sie denn da einsperren?“ fragte Eri patzig.
„Ihre komische Wahrsagerin hat doch gesagt, dass „sie bald da seien“, und dass sie schon „ganz in der Nähe“ wären“, gab Amadeo zurück.
„Du bist ein ganz mieser Erpresser“, murmelte Eri. „Ein richtig niederträchtiges Schwein.“
Amadeo winkte läppisch ab. „Du wirst drüber wegkommen.“
Hasserfüllt sah Eri die drei Jungs an. „Ich rede kein Wort mehr mit euch.“ Sie zog die Kapuze ihres Anoraks über den Kopf und schnürte sie eng zu. Dann wandte sie sich ab.
Verzweifelt kauerte Lila sich in ihrem Gefängnis zusammen. Sie wollte weinen, aber das brachte sie auch nicht weiter. Das, was die alte Kassandra gesagt hatte, kam ihr so wichtig vor. Und jetzt verdarben diese bescheuerten Kinder alles! Wenn die Wesen, die nach ihr im Tobanja-Wald gesucht hatten, tatsächlich ganz in der Nähe waren, dann war Lila in allerhöchster Gefahr. Wie konnte sie nur aus diesem Kerker ausbrechen, um schnell zum Hafen zu gelangen, wie die alte Kassandra es ihr gesagt hatte? Lila tastete sich an allen Wänden entlang. Es gab keine zweite Tür. Und die Eingangstür war von außen verriegelt und obendrein noch bewacht. Lila sah keine Chance, nach draußen zu dringen.
Aneinander gelehnt schliefen Matthes und Otto allmählich am Feuer ein. Amadeo starrte mit grimmiger Miene in die Flammen. Eri lag auf der anderen Seite des Feuers auf ihren Arm aufgestützt und hatte sich von den Jungs abgewandt. Wütend sah sie auf den Fluss hinauf.
„Eri?“ Amadeo bekam keine Antwort. „Eri!“ Wieder reagierte Eri nicht.
Energisch stand Amadeo auf, machte einige Schritte um das Feuer herum und baute sich vor Eri auf. „Kriegst du vielleicht mal die Zähne auseinander? Ich rede mit dir!“
„Aber ich rede nicht mit dir!“ erwiderte Eri kühl und drehte sich weg.
Amadeo hockte sich hin und riss Eris zugezogene Kapuze auf. „Pass mal auf! Das ist kein Spiel! Das ist doch für uns eine perfekte Gelegenheit! Wir kennen dieses Mädchen überhaupt nicht, und wenn jemand sie sucht und dafür eine Stange Geld hinblättert, dann haben wir alle was davon, oder?“
Eri dachte kurz nach. Sie beobachtete Amadeo nur flüchtig. Dann richtete sie sich auf und sagte resignierend: „Du hast ja recht.“
Amadeo grinste. „Gut so.“
„Aber dennoch soll es ihr nicht schlecht gehen“, sagte Eri.
„Was meinst du?“ fragte Amadeo.
„Nun ja, wenn da irgendwelche unbekannten Verfolger sind, dann wollen sie Lila doch bestimmt in gutem Zustand haben, oder?“ fragte Eri.
„Da hast du recht“, bestätigte Amadeo.
„Und außerdem müssen die Verfolger ja wissen, wo Lila steckt“ fragte Eri weiter.
„Richtig“, erwiderte Amadeo.
„Dann möchte ich dir beweisen, dass ich guten Willen zeige“, entgegnete Eri. „Ich möchte nach den Verfolgern suchen und sie hier herbringen.“
Amadeo sah sie überrascht an. „Bist du sicher? Wie willst du sie überhaupt erkennen?“
„Lila hat sie doch in etwa beschrieben“, gab Eri zurück. „Solche merkwürdigen Gestalten sollten leicht auszumachen sein, denke ich. Und wenn sie ohnehin schon ganz in der Nähe sind...“
„Gut“, sagte Amadeo und half Eri auf. „Aber sei vorsichtig.“
„Ich will Lila kurz vorher noch was zu essen reinbringen“, schlug Eri vor. „Damit sie glaubt, dass wir es gut mit ihr meinen. Sie soll sich in Sicherheit fühlen.“
„Okay.“ Amadeo ging zum Rucksack mit den Vorräten und gab Eri ein Stück Brot und ein Würstchen. „Aber das muss reichen.“
„Das wird es“, sagte Eri und blinzelte Amadeo verschwörerisch zu. Dann zog sie ihre Kapuze wieder zu. „Ich gehe jetzt rein zu ihr und beruhige sie. Und dann suche ich gleich nach den Verfolgern.“
„Gut!“ sagte Amadeo und begleitete Eri zum Brückenpfeiler. Dann schob er den Riegel hoch und öffnete die Tür. Eri zwinkerte Amadeo zu und hob den Daumen als Zeichen, dass der Plan perfekt war.
„Eri!“ Lila war erleichtert, als sie ihre Freundin erblickte. „Was ist hier los, was soll das?“
„Alles ist gut, dir kann nichts geschehen“, erklärte Eri. „Weißt du, Amadeo hat leider recht. Wir können dich nicht einfach so fort lassen. Du bist vielleicht eine Menge Geld wert, Lila...“
Amadeo hörte die Worte von Eri und grinste. Der Sinneswandel von Eri kam ihm sehr gelegen. Er schob die Tür wieder an, damit es für Lila keine Gelegenheit gab zu fliehen. Mittlerweile war es schwärzeste Nacht. Die Lichter vom Jahrmarkt erhellten den Himmel nicht mehr, der Jahrmakt hatte geschlossen. Hoffentlich würde Eri die Verfolger noch in dieser Nacht finden. Minuten vergingen. Amadeo wurde ungeduldig.
Endlich klopfte es von innen. Eris Stimme erklang. „Alles klar, Amadeo, ich bin es!“
Amadeo zog die Tür auf und ließ Eri nach draußen schlüpfen. Während Eri sich den Schmutz aus dem Verschlag vom Mantel klopfte, schloss Amadeo den schweren Riegel der Tür wieder. Dann rief er Eri zu: „Alles klar?“
Eri lugte aus ihrer Kapuze und hob wieder den Daumen.
„Gut“, rief Amadeo. „Dann lauf los!“
Noch einmal hob Eri den Daumen und rannte los, um nach Lilas Verfolgern zu suchen. Flugs war sie hinter dem Brückenpfeiler verschwunden.
Amadeo hatte versucht, sich schlafen zu legen. Aber an Einschlafen war nicht zu denken. Es war ein Fehler, Eri alleine auf die Suche nach Lilas Verfolgern zu schicken. Es war doch viel zu gefährlich, mitten in der Nacht durch die Stadt zu laufen. Und dann noch ein Mädchen! Ein Mädchen, das nach zwei Wesen suchte, von denen man noch nicht einmal genau wusste, wer – oder vielmehr was - sie waren. Nie im Leben hätte Amadeo sich ausgemalt, dass er sich Sorgen um Eri machen würde. Aber immerhin hatten sie viel miteinander durchgestanden. Sie gehörten doch alle zusammen zu ihrer kleinen Gruppe. Wahrscheinlich hätte er sie auch niemals wirklich aus der Bande ausgeschlossen. Wenn sie nur erst wieder da wäre!
Eine Uhr hatte er nicht, aber Amadeo schätzte, dass Eri jetzt bestimmt schon über eine Stunde weg war. Was, wenn ihr etwas zugestoßen war? Vielleicht waren Lilas Verfolger nicht nur hinter Lila her? Vielleicht hatten sie sogar Eri statt Lila entführt? Einen kurzen Moment überlegte Amadeo, ob er in die Stadt laufen und nach Eri suchen sollte. Doch hatte das einen Sinn?
Ach, diese Lila! Die war doch an allem schuld! Es war allein ihr Fehler, dass Amadeo sich jetzt um Eri sorgen musste. Hätten sie diese blöde Ziege mit ihrem violetten Haar doch bloß gleich weggeschickt. Plötzlich war Amadeo fürchterlich sauer auf Lila. Er befreite sich aus seinem Schlafsack, stand auf und öffnete den Riegel der Tür im Brückenpfeiler. Er musste diesem dämlichen Weibsbild sagen, wie wütend er darüber war, dass sie alles durcheinander gebracht hatte.
In dem kleinen Raum war es stockdunkel. Schnell fingerte Amadeo aus seiner Jackentasche das Feuerzeug, mit dem er das abendliche Feuer anzündete. Er ließ das kleine Rädchen nach unten schnellen. Die kleine Flamme erhellte den Raum. Lila lag in der Ecke und schlief. Amadeo trat einen Schritt näher. Aber – was war das? Als Amadeo genau hinsah, sah er – „Eri!“ rief Amadeo und verbrannte sich seinen Finger am Feuerzeug.
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