„Leichtes Spiel“, sagte der Große mit der dumpfen Stimme und deutete auf das Frachtschiff, die „Tyrann“. „Das da muss die kleine Kröte sein.“
In diesem Moment war Lila zwischen den Säcken auf dem Bootsdeck hervorgehuscht.
„Nie gesehen und gleich wiedererkannt“, kicherte die kleinere Gestalt mit durchdringender Stimme. „Die ganzen Kerle da sind zu blöd, das Balg zu sehen, aber ich hab sie gleich erspäht.“
„Du hast sie gleich erspäht?“ fragte die große Gestalt und hob drohend die Hand. „ Ich hab sie erspäht. Und darum gehört der Löwenanteil der Kopfprämie mir.“
„Dir?“ versicherte sich die kleinere Gestalt. „Ich höre wohl nicht recht. Die Kopfprämie wird durch zwei geteilt oder gar nicht!“
„Wenn wir uns nicht beeilen, kriegen wir gar keine Belohnung“, dröhnte der Große. „Dann fährt das Schiff nämlich ohne unsere Beute los.“
„Also los, auf sie mit Gebrüll!“ kicherte der Kleinere gehässig und wollte loslaufen. Doch der Große hielt ihn zurück.
„Bist du verrückt? Dann wird alle Welt auf uns aufmerksam, und das lila Haar wahrscheinlich auch. Wenn wir so gehen, wie wir aussehen, dann fallen wir zu sehr auf. So sieht man hier einfach nicht aus. Und dann ist das lila Haar auch gewarnt.“
„Ah.“ Der Kleinere verstand und blickte seinen Begleiter an. „Und was schlägst du vor?“
„Ganz einfach“, sagte der Größere listig. „Wir schleichen uns da an den Rand und dann geht’s ins Wasser... und dann schwimmen wir die paar Meter bis zum Boot hinterher.“
„Und das soll klappen?“ fragte der Kleinere skeptisch.
Der Große sah ihn verheißungsvoll an. „Fisch!“ sagte er.
„Fisch“, wiederholte der Kleine verständnislos. Dann erhellte seine Miene sich. „Fisch! Ja, klar! Fisch! Die ehrenwerte Suoltary wird stolz auf uns sein. Und der Aufstieg in den Großen Rat rückt näher!“
Lila hatte ein perfektes Versteck gefunden. Ein kleines Holzboot lag kopfüber hinter dem Häuschen, in dem die Steuerkabine des Schiffes untergebracht war. Lila schätzte, dass es ein Rettungsboot war. Von hier aus hatte sie einen guten Überblick über den Hafen. Sie konnte beobachten, wie die Männer die letzten Säcke auf das Deck warfen. Außerdem ließ Lila ihren Blick über die Stege schweifen. Das edle Passagierschiff, die „Treipan“, machte sich offenbar zum Ablegen bereit.
„Fertig, Kapitän!“ brüllte ein Mann aus.
Das galt wohl dem Kapitän der „Tyrann“, der gefolgt von zwei Matrosen, das Schiff über eine kleine Holzbrücke betrat und dann am Deck vorbei zur Steuerkabine ging. Die Beine der Männer gingen nur wenige Zentimeter an Lilas Gesicht vorbei.
„Bereit zum Ablegen, Männer“, sagte der Kapitän mit einer dunklen Dröhnstimme.
Einen kurzen Moment überkam Lila der Gedanke, ob die Entscheidung, sich auf die „Tyrann“ zu begeben, die richtige gewesen war. Die alte Kassandra hatte zwar davon gesprochen, dass Lila auf ihre innere Stimme hören und sich vom Schicksal leiten lassen sollte. Aber sie hatte auch von einem Totenschädel gesprochen, fiel Lila wieder ein. Und hier auf der „Tyrann“ gab es rein gar nichts, was an einen Totenschädel erinnerte. Hoffentlich war sie auf dem richtigen Weg. Die Maschinen des Frachtschiffes begannen zu brummen. Lila spürte die Vibrationen unter sich. Die Matrosen zogen die Schlingen der dicken Seile über die Poller. Das Schiff setzte sich sachte in Bewegung. Lilas Herz klopfte, als sie beobachtete, wie sich der Schiffsbauch langsam von der Hafenmauer löste.
Das Heck der „Tyrann“ hinterließ eine Schneise von kleinen, schaumigen Wellen im Hafenbecken. Gemütlich tuckerte das Frachtschiff los. Die Bucht, an der der Hafen lag, lief an beiden Enden ziemlich eng zusammen, an einer Stelle, wo der einzige Weg in den Ozean führte. Langsam fuhr die „Tyrann“ darauf zu.
Im Fahrwasser, nur ein paar Meter hinter dem Heck, tauchten plötzlich Lilas Verfolger aus dem Wasser auf.
„Erster!“ rief der Kleine mit der hellen Stimme. „Wieder ich! Wieder normal!“
„Wir waren beide gleich schnell“, brummte der Große.
„Und holen wir uns das Kind jetzt?“ fragte der Kleine.
Der Große überlegte. „Noch nicht jetzt. Lass uns erst ein wenig weiter draußen sein, mitten auf dem Ozean. Da hat sie dann keine Möglichkeit mehr zu fliehen. Komm.“
Der Große schwang seine borstigen, langen Arme nach vorne und griff an ein Metallrohr, das am Heck der „Tyrann“ befestigt war. Dann ließ er sich von dem Schiff durch das Wasser pflügen.
„Ja!“ freute sich der Kleine und hakte sich mit den Knien in einer Leiter fest, die von der Reling herunterführte. „Dann kann sie nicht mehr fliehen, dann kann sie nicht mehr fliehen!“
„Still!“ brummte der Große giftig. „Uns darf niemand schnappen. Vergiss nicht, es sind noch andere Menschen hier in der Nähe.“
„Menschen. Überflüssig und im Weg.“ Der Kleinere schüttelte sich. Dann deutete er in Richtung Hafenbecken, das mittlerweile schon etwas weiter entfernt war. „Da stechen noch mehr von denen in See.“
Damit meinte er das edle Schiff, die „Treipan“, die ebenfalls gerade den Anker lichtete und ihren Anlegeplatz verließ.
Das Grummeln und Brummen, das Lila auf dem Schiff im Bauch verspürte, war ein neues Gefühl für sie. Noch konnte sie nicht sagen, ob es ihr wohl dabei war oder ob ihr gleich schlecht werden würde. Aber die Bewegung der „Tyrann“ fühlte sich schon sehr merkwürdig an.
Lila blickte zurück auf die Stadt. Die Lichter der Straßen zogen sich entlang der Küste und führten den Berg hinauf. Dort, wo der hügelige Wald begann, zerstreuten sich die Lichter immer mehr. Je höher der Berg wurde, desto schwärzer wurde er. Das Strahlen des Jahrmarkts war längst erloschen.
Vom Hafen her drangen Rufe und Gelächter über die Wasseroberfläche. Lila sah, dass diese Geräusche von dem großen Motorsegler, der „Treipan“ kam. Das Schiff hatte ebenfalls abgelegt und näherte sich mit hoher Geschwindigkeit. Lila fragte sich, was das wohl für eine Gesellschaft war, die dort in Anzügen und dunklen Brillen in See stach – und das mitten in der Nacht. So stellte sich Lila reiche Geschäftsmänner vor, die allerhand wichtige Angelegenheiten mit Geld und Aktien und solchem Kram regelten. Aber so richtig konnte sie sich nicht vorstellen, was solch eine Gruppe auf einem Schiff trieb. Vielleicht feierten sie eine Party. Aber um diese Zeit?
Wie sie so aus ihrem Versteck unter dem Holzboot beobachtete, wie das hellerleuchtete weiße Schiff sich immer mehr näherte, kamen ihr die Worte der alten Kassandra wieder in den Sinn. Mehr als einmal hatte Kassandra von dem Totenschädel gesprochen. Aber nichts deutete darauf hin.
Lila wandte sich zum Bug des Schiffes. Vor ihnen lag die Landenge, die aus der großen Bucht hinaus auf das offene Meer führte. Als Lila zum Heck schaute, stellt sie fest, dass die „Treipan“ nähergekommen war.
Als Kassandras Worte Lila erneut durch den Kopf spukten, stellte Lila sich plötzlich eine Frage: War sie denn überhaupt ihrem Gefühl und ihrer inneren Stimme gefolgt? Kassandra hatte darauf immer wieder gepocht. Aber war die Entscheidung, sich auf die „Tyrann“ zu begeben, richtig gewesen?
Die „Treipan“ hatte mächtig aufgeholt. Wenn das so weiterging, vermutete Lila, würden die „Treipan“ und die „Tyrann“ die Landenge, die durch die beiden Enden der Bucht entstand, zur gleichen Zeit erreichen.
Fieberhaft dachte Lila nach. Die Entscheidung, sich auf die „Tyrann“ zu schmuggeln – hatte sie die denn auf ihr Gefühl hin getroffen? Nein... eigentlich hatte Lila doch beschlossen, das Frachtschiff zu nehmen, weil es dort sicherer schien. Und das aus dem vernünftigen Beschluss heraus, dass auf der „Tyrann“ weniger Menschen waren als auf der „Treipan“... und es auf dem Frachtschiff mehr Möglichkeiten gab, sich besser zu verstecken. Aber das war eine Wahl gewesen, die eben aus der Vernunft entstanden war. Hatte das mit Gefühl und der inneren Stimme zu tun?
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