»Genau, deine Tochter und ich haben es uns gutgehen lassen, aber das ist jetzt zweitrangig. Wenn du angezogen bist, musst du herausfinden, was von der ganzen Sache zu halten ist. Aber bitte sei nicht so streng zu Michel. Manchmal ist er eben doch noch ein kleiner Junge.«
Kurz darauf saß Alain Michel gegenüber, der sich nicht wagte, seinen Vater anzusehen.
»Über den Vertrauensbruch, den du begangen hast, reden wir später. Zunächst gilt es zu klären, wie tief du schon in der Sache drinsteckst. Was ist genau passiert, als der Mann hier im Zimmer war?«
»Er hat mich böse angesehen und sein Krokodilmaul gefletscht. Was er zu mir gesagt hat, konnte ich ja nicht verstehen.«
»Hat sich irgendetwas an dem Kartenbild verändert, während er hier war?«
»Ja, aus dem Stapel mit den Textkarten hat sich eine herausgeschoben, ohne dass er den Stapel angefasst hätte.«
»Hast du dir die Karte gemerkt?«
»Ja, ich habe sie oben auf den Stapel gelegt.«
»Gut, dann gib sie her!«
»Ich habe das Spiel wieder dorthin zurückgelegt, wo ich es fand.«
»Sehr clever«, sagte Alain, »damit ich ja nichts merke, aber hinterher hast du es mit der Angst gekriegt, sonst hättest du dich nicht im Bad verkrochen. Kommt, wir gehen alle rüber! Ich schätze, was da geschrieben steht, wird uns alle angehen.«
Im Elternzimmer schloss Alain die Kommode auf und nahm den bewussten Kartenstapel heraus. Dann überflog er den Text. Dabei wurde seine Miene immer finsterer. Die Spannung im Raum war fast greifbar, und nun bekam es auch Jeanne langsam mit der Angst zu tun.
„ Das Spiel ist nicht aufgegangen, deshalb hast du verloren “,
las Alain schließlich laut vor,
„ du bekommst eine zweite Chance, indem du eine Prüfung bestehst. Du musst deine Angst überwinden und durch einen Sprung tief in mein Element eintauchen. Doch damit nicht genug. Bringe einen Beweis mit und versuche das Spiel noch einmal zu lösen. Wenn du wieder verlierst, musst du erneut eine Mutprobe bestehen, die ungleich schwieriger sein und dich in große Gefahr bringen wird. Traust du dich nicht, noch einmal zu spielen, kannst du auch ein Mitglied deiner Familie spielen lassen, für das dann dieselben Regeln gelten. Aber sei gewarnt, denke nicht, du könntest das Spiel einfach vergessen oder es vernichten. Ich wache über dich und werde dich notfalls in mein Reich holen, aus dem es für dich dann kein Entrinnen gibt. Und nun viel Glück bei deiner schweren Aufgabe“.
»Was meint er mit „seinem Element“ und „seinem Reich“?«, fragte Michel ängstlich.
»Der Krokodilgott Sobek war in der ägyptischen Mythologie der Herrscher über das Wasser. Er war nicht nur Fruchtbarkeitsgott, sondern auch eine Wassergottheit«, gab Alain Auskunft. »Kom Ombo in Oberägypten und das Fayyum-Becken galten als Hauptorte seines Kults. Im Mittleren Reich verehrte man ihn sogar als „Sobek-Re“, deshalb die Sonnenscheibe auf seinem Kopfschmuck. Man sah ihn als Beschützer vor Gefahren oder als Feind an, denn im alten Ägypten wurden Krokodile als heilige Tiere verehrt, aufgrund der von ihnen ausgehenden Gefahr. Ab dem Neuen Reich konnte man Sobek in den sogenannten Unterweltbüchern finden. Das dürfte er meinen, wenn er von seinem Reich spricht. Mit seinem Element ist auf jeden Fall das Wasser gemeint.«
»Und das dir, wo du schon vor einem stärkeren Regen Angst hast«, witzelte Jeanne.
»Sei nicht so böse«, sagte Catherine, »du weißt genau, was deinem Bruder passiert ist, als er noch klein war.«
»Er hat ein bisschen Wasser geschluckt, wie viele andere Kinder auch beim ersten Mal.«
»Das ist eine stark untertriebene Version des Geschehens. Er wäre um ein Haar ertrunken.«
»Nun lasst doch die alten Geschichten«, maulte Michel, dem es peinlich war, immer wieder darauf angesprochen zu werden, »inzwischen habe ich meinen Freischwimmer gemacht, aber deshalb muss ich ja dieses Element nicht lieben.«
»Komm ja nicht auf die Idee, in den Nil zu springen«, ermahnte Alain seinen Sohn, »dort gibt es zwar schon lange keine Krokodile mehr wie früher, jedenfalls nicht hier in Luxor, die restlichen findet man mehr oberhalb in Höhe von Assuan, aber es wird ausdrücklich davon abgeraten, im Nil zu baden, da man sich dort sehr unangenehme Krankheiten holen kann.«
»Was soll ich denn machen? In einen Swimmingpool hüpfen?«, fragte Michel gequält, »der Typ hat keinen Zweifel darüber gelassen, dass es ihm ernst ist. Außerdem ist auf der Karte von einem Sprung und tiefes Eintauchen die Rede, aber einen Turm wie in den Schwimmbädern gibt es wohl hier in keinem Hotel. Und was sollte ich vom Grund als Beweis mitbringen? Ein Quietsche-Entchen?«
»Warum nicht? Das Ganze hat sowieso mehr symbolhaften Charakter, und ich könnte dich vom Rand des Beckens aus beobachten«, ermunterte Alain Michel.
»Nein, danke, ich glaube nicht, dass das dieser finsteren Erscheinung reicht.«
»In den Nil gehst du jedenfalls nicht, damit das klar ist«, sagte Alain, »sonst bekommst du es mit mir zu tun. Und glaube mir, ich kann mindestens ebenso unangenehm werden wie Sobek, oder der, der sich für ihn ausgibt.«
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