Alain Duval und seine Kollegen waren vom französischen Institut für orientalische Archäologie beauftragt worden, die Grabanlage von Thutmosis III. erneut zu untersuchen, denn in ihr gab es eine Besonderheit, ein Element der Grabarchitektur in der Form eines tiefen Schachtes, das im Laufe der Zeit immer wieder neue Bedeutung erfahren hatte, aber letztendlich nie ganz geklärt wurde. Während man den Schacht anfangs nur als Hindernis für Grabräuber oder gar als Auffangbecken heftiger Regenfälle gedeutet hatte, war man später dazu übergegangen, ihm eine religiöse Bedeutung zuzuordnen, als direkten Zugang zur Unterwelt beziehungsweise als Übergangsort vom Diesseits zum Jenseits, wo der Pharao in die Welt der Götter eintritt. Der Verdacht, dass sich am Ende des Schachtes eine zweite versteckte Grabkammer befinden könne, war immer wieder heftig diskutiert worden. Die eine Seite tat es als Spinnerei oder Wunschdenken ab und befürwortete die symbolische Bedeutung der Anlage, die andere fragte sich zu recht, ob ein weit über hundert Meter tiefer Schacht für diese Zwecke nicht etwas viel Aufwand bedeutet habe. Alain Duval gehörte zur letzteren Gruppe und hegte einen konkreten Verdacht, wie schon andere Archäologen vor ihm, die allesamt nach etlichen Metern aufgegeben hatten. Alain hatte sich vorgenommen, bis zum Ende des Schachtes vorzudringen, um endlich Gewissheit zu haben. Damit hatte er schließlich auch das Institut überzeugen können.
Thutmosis III., der etwa 1486 bis 1425 v. Chr. gelebt hatte, war der sechste altägyptische Pharao der 18. Dynastie des Neuen Reiches. Seine erste Hauptgemahlin mit dem Titel „Große königliche Gemahlin“ war Satiah. Nach deren frühen Tod heiratete er die bürgerliche Meritre Hatschepsut, die ihm zwei Töchter und seinen Nachfolger Amenophis II. gebar. Das Grab von Amenophis II. fand 1898 ebenfalls Victor Loret im Tal der Könige. Es erhielt die Nummer KV35. Die Mumie des Herrschers befand sich noch in ihrem Sarkophag und in einer der Nebenkammern wurden zwanzig weitere Mumien entdeckt, darunter neun Pharaonen, die zum Schutz vor Grabräubern in der 21. Dynastie hierhin umgebettet worden waren. Die Mumie seiner Mutter Meritre Hatschepsut war nicht dabei. Somit blieb ihr Bestattungsort weiterhin im Dunkeln. Aber es sprach einiges dafür, dass sie in einer geheimen Kammer ihres Gemahls Thutmosis III. ihre letzte Ruhe gefunden hatte. Schließlich war sie zu Lebzeiten mit Titeln wie „Alleinige, Höchste zu Verehrende“, „Königsmutter“, „Herrin der beiden Länder“, „Königliche Gemahlin“, „Große königliche Gemahlin“, „Gottesgemahlin des Amun“ und sogar mit der zusätzlichen Namenserweiterung „Gotteshand“ verehrt worden.
Die Arbeit des Teams bestand hauptsächlich darin, den immer wieder aufgefüllten Schutt vorsichtig zu entfernen und von einheimischen Arbeitern abtransportieren zu lassen. Schicht für Schicht war bereits ein Großteil der in einem tiefen Blau gehaltenen Decke, das lediglich von goldgelben Sternen unterbrochen wurde, freigelegt worden. Die Wände zierten ein bunter Fries aus Schilfbündeln und dem Himmelszeichen und noch keine Götterszenen, wie in Schächten späterer Gräber. Während die Studenten eifrig Grabungstagebücher führten und sich für Einträge auf Objekt-Karten und Kopien möglicher hieroglyphischer Inschriften bereithielten, legte Robert Poissonnier eine Art Fototagebuch an und konnte es kaum abwarten, zum Ende des Tunnels vorzudringen, um bisher nie da gewesene Fotos einer fast vergessenen Grabkammer zu schießen.
»Muss ich mir Sorgen machen?«, fragte Catherine in der Nacht, bevor Alain wieder zu seinen Kollegen stoßen wollte. Sie saß in einem Nichts von hauchdünnem Nachthemd am Frisiertisch und bürstete ihre Haare.
»Du meinst, wegen des angeblichen Fluchs, der uns in der Grabkammer erwarten könnte?«
»Ja, auch. Selbst, wenn man Übertreibungen und Sensationsmache im Fall Howard Carter und seine Entdeckung des Grabes von Tutanchamun berücksichtigt, bleiben noch genug ungeklärte Vorfälle übrig.«
»Weißt du, was der gute alte Carter dazu gesagt hat? Ich zitiere:
„ Alle Menschen gesunden Verstandes sollten solche Erfindungen mit Verachtung abweisen .““
»Aber ein gewisser Zahi Hawass hat geschwiegen, als man ihn fragte, ob er sich vor dem Fluch des Pharaos fürchte, und soll seltsame Erfahrungen mit Mumien gemacht haben«, sagte Catherine, stieg ins Bett und kuschelte sich liebevoll an ihren Mann.
»Schatz, der Herr ist erst 2005 anlässlich einer CT-Untersuchung Tutanchamuns befragt worden. Welcher Art seine Erfahrungen mit Mumien sind, darüber hat er sich meines Wissens ebenfalls ausgeschwiegen. Hm, du duftest gut. Ein neues Parfüm?«
»Lenk nicht ab. Und was ist mit der mysteriösen Tontafel, auf der ein Fluch gestanden haben soll? Die Inschrift lautete:
„ Der Tod wird auf schnellen Schwingen zu demjenigen kommen, der die Ruhe des Pharao stört “,
das kannst du nicht wegleugnen.«
»Es ist umstritten, ob diese Tontafel jemals existiert hat. Zumal es nicht ein einziges Foto davon gibt. Dabei wurden alle Funde fotografisch dokumentiert und erhielten eine Fundnummer«, grummelte Alain.
»Man sagt, die Tontafel sei aus den Protokollen gestrichen worden, um Rücksicht auf die abergläubischen einheimischen Arbeiter zu nehmen, und seitdem sei sie verschollen«, ließ Catherine nicht locker.
»Nicht nur ich bin der Meinung, dass die Formulierung und Wortwahl gegenüber anderen Grabflüchen als eher unägyptisch und untypisch anzusehen sind.«
»Also gab es auch andere Grabflüche…«
»Mehr Warnungen beziehungsweise Drohungen, die sich an Bedienstete der Nekropolen richteten, weil diese sich mitunter Grabbeigaben aneigneten oder von Grabräubern bestechen ließen. Eine lautete zum Beispiel:
„ Der große Gott wird über all jene richten, die dieses Grab zu ihrer eigenen Begräbnisstätte machen oder ihm Böses zufügen “.
In einem anderen Fall heißt es:
„ Verweist ihn des Tempels, enthebt ihn seines Amtes, ihn und den Sohn seines Sohnes und den Erben seines Erben. Auf Erden sei er ausgestoßen; sein Brot, seine Nahrung, sein geweihtes Fleisch seien ihm genommen. In diesem Tempel soll nichts an seinen Namen erinnern. Ausgelöscht seien seine Schriften im Tempel des Fruchtbarkeitsgottes Min, in der Schatzkammer und in jedem anderen Buch “.
Du siehst dabei handelt es sich mehr um eine irdische Bestrafung. Und zu der Carter-Legende: Da wurden Fakten geschickt aufbereitet. So schrieb man, Howard Carters Kanarienvogel sei in seinem Haus einer Kobra zum Opfer gefallen, und zwar am Tag der Graböffnung. Nun muss man wissen, dass die Kobra als Beschützer des Pharaos galt, deshalb sah man in dem Vorfall eine Art Bestrafung und ein böses Omen. Angeblich soll sogar ein Bote den „Todesschrei“ des Vogels vernommen haben. Fakt ist aber, dass der Kanarienvogel keinesfalls an jenem Tag starb, und im Haus einer Bekannten, bei der er zur Pflege war.«
Alain machte eine bedeutungsvolle Pause, aber er sah Catherine an, dass sie noch nicht genug erfahren hatte, deshalb sprach er weiter.
»So richtig Auftrieb bekam die Schauergeschichte durch die Begleitumstände von Lord Carnarvons Tod, dem Auftraggeber von Carter. An dem Tag, als Carnarvon das Grab betrat, soll ein Reporter verlautet haben, dass er dem Lord seinem Aussehen nach noch sechs Wochen zu leben gebe. Tatsächlich starb Carnarvon genau sechs Wochen später. Zusätzlich tauchte die Aussage einer Okkultistin und Autorin zwei Wochen vor seinem Tod auf. Sie hatte folgenden Wortlaut:
„ Die fürchterlichste Bestrafung folgt jedem voreiligen Eindringling eines versiegelten Grabes .“,
oder so ähnlich. Und als dann auch noch in ganz Kairo angeblich zum Zeitpunkt des Todes von Lord Carnarvon der Strom ausfiel und gleichzeitig sein Hund starb, war die Legende perfekt. Es hieß, der Lord habe sich beim Rasieren einen Moskitostich aufgeschnitten und sei an einer Blutvergiftung gestorben. Zusätzlich kam das Gerücht auf, die Mumie Tutanchamuns habe ebenfalls eine Wunde im Gesicht aufgewiesen - an derselben Stelle. Dazu ist zu sagen, dass der Lord sich tatsächlich eine Wundrose zugezogen hatte, aber vermutlich an einer Entzündung seiner seit Jahren geschwächten Lunge gestorben ist. Tutanchamuns Mumie wies übrigens keinerlei Verletzung im Gesicht auf, der Hund des Lords starb erst mehrere Stunden später und Stromausfälle waren und sind in Kairo keine Seltenheit. Über die anderen Todesfälle zu berichten, erspare mir bitte. Lass uns jetzt zur Ruhe kommen.«
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