»Freiräume werden durch Karten des Hilfsstapels gefüllt«, las der Rezeptzionist weiter. »Ist dieser verbraucht, nimmt man die benötigten Karten vom Talon, den man abhebt, falls keine passende Karte auftaucht. Passt auch seine oberste Karte nicht, legt man sie offen auf einen Ablagestapel. Ist der Talon verbraucht, benutzt man den Ablagestapel. Ist er durchgespielt, ohne dass alle Karten zum Einsatz gekommen sind, ist das Spiel nicht aufgegangen. In diesem Fall muss man eine beschriftete Überraschungskarte ziehen. Aber sieh dich vor…«
»Ja, danke, Sie haben mir sehr geholfen«, sagte Michel und nahm schnell die Schriftrolle wieder an sich. »Ich wäre Ihnen übrigens sehr dankbar, wenn Sie meinem Vater nichts davon erzählen würden.«
»Das ist doch Ehrensache. Väter müssen nicht alles erfahren.«
Michel konnte gar nicht abwarten, zurück im Zimmer zu sein. Von ihm aus konnten sich die Frauen ruhig Zeit lassen, denn er würde bestimmt keine Langeweile haben. Die Warnung, dass man das einmal angefangene Spiel nicht beenden, es allenfalls an einen Mitspieler weiterreichen dürfe, hatte Michel längst vergessen. Und dass man dabei in tödliche Gefahr geraten konnte, hielt er ohnehin für maßlos übertrieben.
Als Catherine und Jeanne ausgeruht und frisch gestylt zurück ins Hotel kamen, suchten sie vergeblich nach Michel. Er war in keinem der Restaurants, hatte es sich nicht an einem schattigen Plätzchen im Garten gemütlich gemacht und war auch zunächst in den beiden Zimmern nicht zu finden. Erst als Jeanne die Tür zum Badezimmer öffnete, entdeckte sie ihren Bruder im Dunkeln auf dem Boden sitzend mit dem Kopf zwischen den Knien und wie Espenlaub zitternd.
»Maman, hier ist er«, rief Jeanne, »ich glaube, es geht ihm nicht gut.«
Catherine bückte sich zu ihrem Sohn hinunter und strich ihm das Haar aus der Stirn.
»Sag mal, hast du in die Hose gemacht? Na, das übersehen wir einfach. Was ist denn mit dir? Hast du ein Gespenst gesehen?«
»So etwas Ähnliches«, sagte Michel kleinlaut und umklammerte Catherines Beine.
»Nun beruhige dich erst einmal. Ich kann dir versichern, dass hier niemand außer uns ist. Komm, jetzt wäscht du dich erst einmal, ziehst eine frische Hose an und dann setzt du dich auf dein Bett und erzählst in Ruhe, was dir passiert ist!«
Michel folgte wie ein kleines Kind und bot derart ein Bild des Jammers, dass Jeanne es sogar unterließ, ihn aufzuziehen, und nur ganz gespannt auf seinen Bericht war.
»Ich wollte nur mal probieren, wie das mit dem Spiel geht«, begann Michel, als er umgezogen war.
»Obwohl dein Vater es dir ausdrücklich verboten hat?«, sagte Catherine streng und dabei bildete sich eine kleine Falte über ihrer Nasenwurzel. »Hast du die Schublade etwa aufgebrochen?«
»Das war gar nicht nötig. Ich brauchte nur die obere darüber herausnehmen. Das war ganz einfach.«
»Soso, und wer hat dir die Spielanleitung übersetzt? Jemand aus dem Hotel, nehme ich an.«
Michel nickte.
»Ich möchte aber nicht sagen, wer es war, damit er keinen Ärger bekommt.«
»Und ob er Ärger bekommt, einen, der sich gewaschen hat«, ereiferte sich Catherine, »weil er die Warnungen ignoriert und dir das Spiel nicht sofort weggenommen hat.«
»Nein, nein, das siehst du falsch. Ich habe ihm nur den Text vorgelegt, der nach der Warnung kommt. Da, wo es um die reine Spielanleitung geht. Als er es vorgelesen hat, dachte ich, das Spiel ist doch nichts so Besonderes. Ihr kennt es auch, es ist genau wie bei der Wagenrad-Patience.«
»Wohl kaum, sonst würdest du dich jetzt nicht in einem derartigen Zustand befinden.«
»Wie kann man nur so ein Hörni sein«, konnte sich Jeanne jetzt nicht weiter zurückhalten, »du weißt doch, dass du im Patiencelegen nie besonders gut warst.«
»So gut wie du schon lange. Ich dachte, wenn ich meine Ruhe habe und mich keiner stört…«
»Und was ist dann passiert?«, wollte Catherine wissen.
»Zuerst ging alles gut. Ich hatte einen richtigen Lauf, und plötzlich kam ich nicht mehr weiter. Da musste ich einsehen, dass das Spiel verloren war.«
»Aber deshalb bist du nicht so verzweifelt?«
Michel schüttelte den Kopf.
»Plötzlich erklang eine Stimme hinter mir, die in einer fremden Sprache gesprochen hat. Als ich mich umdrehte, sah ich eine furchteinflößende Gestalt. Ein halbnackter Mann, der nur eine Art Tunika trug, und den Kopf eines Krokodils mit langen schwarzen Haaren und einem seltsamen Schmuck darauf hatte. Seine Augen haben böse gefunkelt und der Rachen mit den spitzen Zähnen war einfach schauderhaft.«
Michel fing wieder an, zu zittern.
»Da kannst du von Glück sagen, dass er dich nicht gleich mitgenommen hat«, sagte Catherine ernst und begann dann zu lächeln. »Weißt du, was ich glaube? Du bist über den Karten eingeschlafen und hattest einen Albtraum.«
»Non, maman, bestimmt nicht. Er war hier. So etwas kann man sich doch nicht ausdenken. Ich höre noch seine Worte, die irgendwie kehlig und seltsam verhallt klangen.«
»Dann werden wir deinen Vater fragen müssen, um wen es sich gehandelt haben könnte.«
»Nein, bitte nicht. Ich werde das Spiel auch nicht mehr anfassen.«
»Vor ihm solltest du dich weniger ängstigen. Darf ich dich daran erinnern, was er vorgelesen hat? Womöglich hast du etwas heraufbeschworen, das wir nicht mehr loswerden.«
Jeanne hatte sich unbemerkt an den Laptop gesetzt und war scheinbar fündig geworden.
»Hat er so ausgesehen?«, fragte sie und deutete auf den Bildschirm.
»Ja, genau, wer ist das?«
»Glückwunsch, Brüderchen, du hast keinen geringeren als den Krokodilgott „Sobek“ heraufbeschworen. Siehst du? In der linken Hand hält er eine Art Zepter und in der rechten ein Anch, das Lebenssymbol der Ägypter. Hier steht, dass er in Darstellungen des Neuen Reiches einen Kopf-schmuck mit Sonnenscheibe trägt.«
»Halt, Stopp!«, insistierte Catherine, »es ist kaum anzunehmen, dass dir eine mythologische Gottheit erschienen ist. Vielleicht hat dir nur jemand einen üblen Streich gespielt, und du bist darauf hereingefallen. Du wirst uns wohl oder übel sagen müssen, wem du von dem Spiel erzählt hast, damit dein Vater sich ihn vorknöpfen kann.«
Als Alain abends müde und staubig ins Hotel zurückkam, ließ Catherine ihn erst einmal eine Dusche nehmen und hielt ein Glas seines Lieblings-Kognaks bereit.
»Nanu, gibt es etwas zu feiern? Dann möchte ich um Champagner bitten. Oder hast du ein schlechtes Gewissen?«, fragte er erfrischt und rubbelte sein Haar trocken.
»Das schlechte Gewissen hat dein Sohn. Zu Recht, wenn du mich fragst.«
»Hat er das Zimmer auseinandergenommen oder einen Gast beleidigt?«
»Schlimmer, er hat sich Zugang zu dem Spiel verschafft und es ausprobiert.«
Alain war für einen Moment sprachlos, fasste sich aber schnell.
»So ein Schlingel. Obwohl ich es ihm ausdrücklich verboten habe. Und was jetzt? Sitzt er mit der Beulenpest in seinem Zimmer, oder kann sich nicht mehr rühren?«
»Zum Glück beides nicht, aber er ist ziemlich durcheinander, denn er hat ungebetenen Besuch erhalten. Er selbst glaubt, dass es eine Erscheinung war, die dem Krokodilgott Sobek glich, wie Jeanne aufgrund seiner Beschreibung im Internet herausgefunden hat. Ich denke, da hat ihn jemand auf den Arm genommen. Wahrscheinlich der, der ihm die Spielanleitung übersetzt hat. Jedenfalls hat er die Hosen gestrichen voll.«
»Und dann ist derjenige einfach so hinausspaziert, ohne eine Botschaft zu hinterlassen?«
»Nein, er soll geredet haben, aber in einer Sprache, die Michel nicht verstanden hat.«
»Dann werde ich mir den Bengel mal vorknöpfen. Schön zu wissen, dass unsere Kinder sich an unsere Anweisungen halten. Wo hast du eigentlich derweil gesteckt? Täusche ich mich, oder hast du eine frische Frisur?«
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