Sturm war die gesamte Zeit auf den Füßen geblieben. Er war die Fensterfront, von der Tafel auf der einen Seite bis zum Bild des Bundespräsidenten auf der anderen Seite des Raumes, abgeschritten. Wie immer waren es siebzehn Schritte.
„Sonst noch was?“ Auffordernd, jetzt bloß nicht mit „Ja“ zu antworten, blickte er in die Runde.
Prompt steckte die Abteilungsschreibkraft ihren Kopf in die Tür.
„Kommissar Sturm, ich glaube, das interessiert Sie. Falsch, ich weiß, das muss Sie interessieren.“ Damit überreichte sie einen langen Faxpapierstreifen.
Schon nach den ersten Sätzen hob Sturm die das Papier nicht festhaltende Hand. Das hieß sitzen bleiben.
„Na, hoppla. Rostock bringt Koryphäen ans Tageslicht! Alle Achtung. Wir haben was. In der Nähe von Magdeburg wurde vor einer Woche mit einem Maschinengewehr geschossen. Auf einem alten Truppenübungsplatz der Russen. Die Ermittler dort wurden durch einen Bürger Rostocks auf die richtige Spur gebracht. Ein Mann, der sein Geld mit den Geräuschen von Waffen verdient.“
Das Fragezeichen im Blick einiger Kollegen richtig deutend, musste Sturm die Schultern zuckend eingestehen, dass er ebenfalls keine Ahnung hatte, was damit gemeint sein könne. Jedoch hatte sofort eine Idee.
„Also, der Rostocker behauptete, dass mit einem russischen MG des Typs PKT geschossen worden war. Und tatsächlich wurden dort frisch abgeschossene Patronenhülsen für genau diesen MG-Typ gefunden. Er selbst konnte der Schütze nicht sein. Das ist erwiesen. Das ist ein Klorollenfax, deshalb haben auch wir das erhalten. Bekommt raus, ob der Mann in der Nähe ist und schafft ihn gleich zum Schießstand. Ich bin über Funk erreichbar. Wenn ihr ihn habt, komme ich nach. Wer übernimmt das?“ Erwin Bloch meldete sich genauso wie einer der jüngeren Kollegen.
Sturm reagierte instinktiv nach Dienstgrad.
„Erwin, du übernimmst diesen Waffenexperten.“
Der Arm des Neuen war immer noch oben. Sturm reagierte gnädig: „Was ist los, Kollege?“
„Eh, Entschuldigung.“ Er stand sogar noch auf. „Können Sie mir bitte sagen, was ein Klorollenfax ist?“ Ein Grinsen ging durch die Runde. „Das ist ein Rundschreiben an alle Dienststellen Deutschlands und heißt so, weil es jedes Arschloch bekommt. Und jetzt raus hier!“
Ein letzter Blick in den sich leerenden Raum. Auch der Herr Bundespräsident schien zufrieden.
Am Vormittag des Folgetages auf der Autobahn 24
„Lachmann.“ Der Fahrer, ein Mann Mitte Vierzig mit Kurzhaarschnitt, seine Haarpracht gab nichts anderes mehr her, hatte sein Headset auf, während er kurz vor Rostock langsam durch eine kleine Tagesbaustelle fuhr. „Mein Name ist Erwin Bloch. Ich bin Hauptkommissar der Polizei in Rostock. Uns kam Ihr Husarenstück in Magdeburg zu Ohren und ich wollte fragen, ob Sie die Möglichkeit hätten, uns bei einer Untersuchung zu unterstützen.“
Der Grund wurde kurz untermauert und Frieder Lachmann willigte ein. Er würde sich in Markgrafenheide auf dem kleinen Schießplatz einfinden und der Polizei gern ein paar Fragen beantworten. Ja, auch noch heute. Die Verabredung wurde präzisiert.
Den Weg kannte er. Oft genug hatten sie auf dem Schießplatz akustische Aufnahmen gemacht. Vor allem für Pistolen. Nach der Tour musste sein Auto definitiv in die Wäsche.
Er bog in den Wald ein, fuhr am wunderschönen reetgedeckten Verwaltungsgebäude der Forstwirtschaft vorbei.
Wegen ein paar wilder Eichhörnchen bremste er vor den Schienen, überquerte diese dann und erreichte gleichzeitig mit einem Passat Kombi, der aus der anderen Richtung kam, den Schießplatz. Auf dem Parkplatz wurde seine Tür schon geöffnet.
„Herr Lachmann?“
Der Mann sah nett aus. Ein bisschen fertig um die Augen und gestresst, aber nett. Ein strohblonder, großer Kerl.
„Mein Name ist Magnus Sturm von der Rostocker Kriminalpolizei.“
Der Ausweis wurde nicht nur pro forma vor die Nase des Neuankömmlings bugsiert. Der genannte Name fand sich darauf wieder. Das Foto sagte aus, dass der Kommissar ausgeschlafen besser aussah.
„Wir brauchen Ihre Hilfe. Darf ich vorstellen? Staatsanwalt Perlhuber, welcher, nennen wir es beim Namen, nicht so ganz auf Ihre Fähigkeiten vertraut und einen kleinen Test mit mehreren Waffen hat vorbereiten lassen. Ist das ein Problem?“
„Keineswegs, ein Überfall ja, aber ein Problem sicher nicht. Und, Herr Staatsanwalt, weswegen brauchen Sie mich so dringend?“
„Ich glaube schon, dass Sie eine gewisse Qualifikation besitzen, die uns nützen kann. Jedoch würde mich der Grad Ihrer Kenntnisse interessieren, bevor wir uns auf Ihre Rückschlüsse verlassen. Denn hier geht es um eine Geschichte von höchster Wichtigkeit. Lauschen Sie einfache einer Reihe von Schüssen und sagen Sie uns, was Sie hören.“
Den verwunderten Blick ignorierend, nein, überhaupt nicht registrierend, schritt der Staatsanwalt, es war ja schließlich alles gesagt, voran.
Auf dem Weg zum Sicherheitsturm erklärte Magnus Sturm dem Neuankömmling, dass es ein glücklicher Zufall war, dass Polizeieinheiten der Ostseeanrainerstaaten ihr diesjähriges Training in Rostock absolvierten. Das Schießtraining, ein Wertungswettkampf fand am gestrigen Tag statt. Da die Anlage noch für das Finale dieses Wettkampfes gebucht war, konnte der geplante Geräuschtest ohne großartigen Aufwand an Vorbereitungen jetzt sofort durchgeführt werden. Lachmann hierher zu holen, war die Idee Sturms aus der gestrigen Besprechung gewesen.
Die drei Männer waren weiter zur Feuerlinie gegangen. Dort saßen zwanglos ein Dutzend Leute auf Bänken, Kisten waren zu sehen und Sandsäcke. Was Lachmann nicht sah, war ein Laptop, angeschlossen an einen Lautsprecher.
Eine der Bänke war nicht in Richtung des Schussfeldes ausgerichtet. Dort sollte er Platz nehmen. Das Schießen würde sich eine Weile hinziehen, wurde ihm noch erklärt. Er möge bitte die Schüsse anhören und sagen, was er denke, aus welcher Waffe diese abgefeuert wurden. Lachmann war einverstanden. Er öffnete seinen Laptop, fuhr das System hoch und schloss ein Mikrofon mit einem, auffallend großen Drahtgestell am Griffstück an.
In dieser „Wetten Dass“-Variante hatte er es zwar noch nie erlebt. Aber in Finnland hatte er so schon mal eine Wodkawette gewonnen, wenn auch sein Magen am nachfolgenden Morgen verloren hatte.
Weder die fadenscheinigen Erklärungen des Kommissars, noch die Ausflüchte des Staatsanwaltes brachten wirkliche Erleuchtung in Lachmanns Gedanken. Er musste also warten. Zwanzig Minuten, eine Filterlose und zwei Tassen Kaffee später ging es los.
Der erste Schuss brach. Lachmann bat um Wiederholung. Orientierte sich nur kurz auf dem Bildschirm seines Laptops, machte eine Notiz auf seiner Kladde.
Ein nächster Schuss folgte. Lachmann sah kurz mit geneigtem Kopf in den Himmel, machte seine Notiz. Die dritte Waffe musste mehrmals abgefeuert werden. Auch der Blick auf seinen Bildschirm ließ ihn noch zweifeln. Er hob die Hand und winkte Sturm zu.
„Hören Sie, Herr Kommissar, ich bin der Spezi für die Waffen aus dem Ostblock. Die ersten beiden sind klar. Erst servieren Sie mir einen Klassiker. Die Smith & Wesson Chiefs Special. Ein dreckiges kleines Mistding.
Entweder als M36 oder als M60. Das konnte ich nicht unterscheiden. Deswegen ließ ich noch einmal schießen. Es bleibt dabei, ich weiß nicht, ob M60 oder M36. Aber es ist definitiv die Chiefs Special, die mit dem kurzen Lauf.“
Perlhuber, der inzwischen dazu getreten war, hatte ein langes Gesicht.
„Das hören Sie raus? Was ist mit der zweiten Waffe?“
Читать дальше