Sie bezweifelte den Alarmruf keine Sekunde lang. Dafür kannte sie den alten Wächter zu gut - er war ihr Bruder.
Schließlich raffte sie sich hoch und humpelte zu ihrer Enkelin. Hastig schüttelte sie das Kind.
„Shendja“, rief sie. „Wach auf, sofort!“
Verschlafen richtete Shendja sich auf. Sie war ein kleines mageres Mädchen von zehn Jahren, mit dunkelblonden Locken und grauen Augen.
„Du musst dich sofort verstecken. Komm mit.“
Die alte Kara zerrte Shendja durch den Raum und lugte nach draußen. Noch war nicht viel los. Einige Lichter waren angegangen und schläfrige Stimmen riefen sich verwirrt Fragen zu. Kara zog Shendja um das Haus zu einem alten Holzstapel, um den viel Gestrüpp und Gezweig aufgetürmt war. Schnell schob sie die verwirrte Shendja in den sperrigen Haufen.
„Aber Großmutter...“ piepste das Mädchen ängstlich.
„Schscht Kind“, flüsterte Kara. „Du darfst keinen Laut von dir geben. Egal was passiert. Hörst du? Egal was du hörst und siehst, egal wie viel Angst du hast. Du bist still und rührst dich nicht. Versprochen?“
„Ja, Großmutter“, flüsterte Shendja. Kara türmte noch etwas Geäst um das Kind auf und eilte dann ins Haus zurück. Inzwischen war der Dorfschamane auf den kleinen Dorfplatz geeilt und begann den Alarmgong zu schlagen.
„Rhusen, Alarm - die Rhusen sind da. Rettet euch und eure Kinder. Die Dämonen sind unter uns“, brüllte er.
„Alter Trottel“, zischte Kara. „So was glauben die Dummköpfe dir nie.“
Und sie sollte Recht behalten. Die Dörfler waren erst verwirrt, aber dann lachten sie unsicher. Was sollte das Geschwätz von Dämonen? Als der alte Wächter tot gefunden wurde, war die Erleichterung groß. Offensichtlich war der alte Mann ausgerutscht oder gestolpert und hatte sich zu Tode gestürzt.
Kara betrat wieder das Haus. Ihr Sohn kam aus der Schlafstube, hinter ihm taumelte schläfrig seine Frau. „Was ist los, Mutter?“ fragte er. Kara atmete tief durch.
„Mein Sohn, ich glaube wir werden den Tag nicht überleben. Die Rhusen sind da. Mein Bruder hat sie gesehen und versuchte uns zu warnen.“
Ihr Sohn lachte ungläubig. „Rhusen? Aber das sind wilde Geschichten.“
„Nein“, sagte Kara fest. „Es sind keine Geschichten. Diese Wesen existieren und...“
In diesem Moment tönte ein Entsetzensschrei durch das Dorf und pflanzte sich fort. - Der junge Wächter war gefunden worden - besser gesagt das, was von ihm noch übrig war.
Und dann brach das Grauen los.
Die Rhusen schienen plötzlich aus dem Boden zu wachsen und waren mitten unter den Dörflern. Panik brach aus, als das Gemetzel begann.
Die riesigen Gestalten fielen gierig und voller Grausamkeit über ihre nahezu wehrlosen Opfer her. Niemand hatte auch nur die Spur einer Chance. Die meisten der Dorfbewohner starben einen qualvollen Tod. Nur wenigen war ein schnelles Sterben vergönnt.
Grauenhafte Schreie klangen zum Himmel und der Boden wurde mit Blut durchtränkt.
Die kleine Shendja hockte zitternd unter dem Holzgestrüpp und biss sich vor lauter Entsetzen die Knöchel blutig. Von ihrem Versteck aus konnte sie nicht viel sehen, aber das wenige was sie sah, reichte völlig aus, sie starr vor Angst hocken zu lassen. Sie schloss die Augen und hielt den Atem an solange sie konnte.
Nach weniger als einer Stunde war die fürchterliche Metzelei vorbei. Die Sonne tauchte das Dorf in seine Strahlen und beleuchtete ein Bild des Grauens.
Es war still, als Shendja sich schließlich nach draußen wagte. Zitternd kroch sie aus ihrem Versteck und blickte sich um. Überall lagen vertraute Gestalten, die bis zur Unkenntlichkeit entstellt waren. Zögernd trat sie ein paar Schritte vor, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Sie erstarrte und spürte wie in ihr das Entsetzen wieder zunahm. Schließlich drehte sie sich herum und blickte direkt in das grinsende Gesicht eines Rhusen.
Shendja schrie und taumelte zurück - direkt in die Arme eines zweiten Rhusen, der mit einem zischenden Lachen ihre Arme ergriff und sie festhielt.
Shendja strampelte verzweifelt und trat wild um sich. Der erste Rhuse kam näher und hob langsam seine Krallen. Shendja kreischte als er mit einer beinahe sanften Geste die Klauen in ihre linke Gesichtshälfte versenkte. Ihre Tritte trafen ihn zwar, beeindruckten ihn aber überhaupt nicht. Mit bedächtigen Bewegungen zerfleischte er ihre Wange und wendete sich dann ihrem Arm zu.
Shendja schrie vor Schmerzen. Sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen, außer dem, dass sie jetzt sterben musste.
Plötzlich hielt der Rhuse inne und lauschte. Er hatte das sich nahende Hufgetrappel völlig überhört und auch sein Freund war überrascht, als plötzlich eine Horde Berittener durch das offene Tor hereintrabte. Die Reiter sahen sich ungläubig und erschüttert um, bis sie auf das Schreien der kleinen Shendja aufmerksam wurden. Als sie die beiden Rhusen erspähten, waren sie erst geschockt, aber die vielen so abscheulich verstümmelten Toten ließen den Zorn in ihnen hochsteigen. Wer auch immer diese hässlichen Geschöpfe auch waren - sie waren böse und für den Tod dieser Leute verantwortlich, daran zweifelten sie nicht. Mit zornigen Rufen sprengten sie vor und rissen ihre Schwerter aus den Gürteln.
Die Rhusen zögerten erst, aber dann wandten sie sich zur Flucht. Sie waren allein gegen zehn bewaffnete Leute und dieses Risiko wollten sie nicht eingehen. Sie rannten flink zu den Palisaden und erklommen diese ohne Schwierigkeit. Lautlos wie sie gekommen waren, verschwanden sie im Wald.
Shendja war einfach fallengelassen worden. Wimmernd wandte sie sich im Sand. Zwei der Männer stiegen ab, um sich um sie zu kümmern. Erschüttert sahen sie, dass ihre linken Gesichtszüge so gut wie nicht mehr existierten. Wie durch ein Wunder war das Auge unversehrt, aber der Rest bestand nur noch aus rohem Fleisch und weißen Knochen.
„Ihr Götter“, krächzte einer schließlich. „Was waren das für Monster?“
Der andere schüttelte ratlos den Kopf und wickelte Shendja vorsichtig in eine Decke.
„Wir müssen sie ins nächste Dorf bringen. Sie braucht dringend eine Heilerin.“
„Du hast Recht, aber erst sollten wir nachsehen, ob nicht noch jemand anderes überlebt hat.“
Die übrigen Männer waren inzwischen hinzugetreten und sahen sich zweifelnd um. Nichts deutete auf andere Lebende hin. Doch sie verteilten sich und durchsuchten vorsichtig das Dorf. Aber sie fanden, wie sie es befürchtet hatten, keine weiteren Überlebenden.
„Wir können die Leichen nicht so liegenlassen“, meinte einer.
„Aber das Kind muss versorgt werden“, drängte der Mann, der Shendja in den Armen hielt. Die Männer berieten sich. Dann beschlossen sie, drei Männer mit Shendja zum nächsten Dorf zu schicken, um dort Hilfe zu holen. Die anderen würden in der Zwischenzeit die Leichen zusammentragen.
Zwei Gesichter
Die Reiter gelangten mit Shendja nach einem Gewaltritt ins nächste Dorf, wo das Kind von einer alten Dorfheilerin notdürftig versorgt wurde. Keiner glaubte, dass sie überleben würde, aber die Kleine erwies sich als zäh. Tagelang wälzte sie sich im Fieber und in Alpträumen und hielt die Dörfler mit ihren Fieberphantasien in Atem. Als sie schließlich wieder klar denken konnte, erzählte sie, was ihr zugestoßen war. Doch erst, als einige der Männer zurückkehrten, die die Toten bestattet und Shendjas Dorf geräumt hatten, wurde ihr Glauben geschenkt. Trotzdem zweifelten einige die Existenz der Rhusen an und wollten eher an wilde Tiere glauben.
Shendja verbrachte einige lange Wochen in dem Dorf, bis sie wieder geheilt war. Als sie das erste Mal auf die Dorfstraße trat, bemerkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Alle starrten sie erst an und vermieden es dann in ihre Nähe zu kommen, oder sie anzusehen. Zuerst glaubte sie, dies sei, weil sie fremd war. Aber schließlich bekam sie mit, wie hinter ihrem Rücken getuschelt wurde. Worte fielen wie: hässlich , scheußlich , dämonisch .
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