Die Strafe für den Lügner besteht
nicht darin, dass man ihm nicht glaubt,
sondern darin, dass er selbst niemandem
mehr glauben kann.
George Bernard Shaw, irischer Dramatiker (1856-1950)
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Umschlaggestaltung: Johann Thiessen, Koblenz
ISBN: 978-3-935265-38-6
eISBN: 978-3-943199-70-3
5. Auflage 2013
Antje Szillat
Plötzlich herrschte Totenstille. Als wäre die Cafeteria auf einmal leer. Dabei spürte Ben doch unzählige Augenpaare auf sich gerichtet. Es war wie immer: Alle gafften. Keiner traute sich, etwas zu unternehmen.
Ben rappelte sich langsam hoch. Sein Gesicht hatte die Farbe einer überreifen Tomate angenommen. Einige Schüler fingen erneut miteinander zu reden an. Ein paar Mädchen kicherten albern. Andere aßen einfach weiter und taten so, als ob überhaupt nichts geschehen wäre.
Ben wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Langsam bückte er sich nach den Resten seines Mittagessens und wünschte sich zum wiederholten Male, er könnte sich unsichtbar machen. Oder der Boden unter seinen Füßen würde sich auftun und ihn verschlingen. Oder noch besser: Er sei groß, stark und mutig. Leider war nichts davon der Fall.
Mit spitzen Fingern suchte er seine Pommes rot-weiß zusammen, die auf dem hellen Linoleumboden der Cafeteria verteilt lagen, und beförderte sie auf den Teller zurück. Danach ging er mit stocksteifen Schritten zum Tresen. Ben nahm sich zwei Servietten, um damit die Überbleibsel von Ketchup und Mayonnaise vom Fußboden und von seinem T-Shirt zu entfernen.
„Lass gut sein“, meinte die dunkelhaarige Frau, die ihm Minuten zuvor die Fritten über die Theke gereicht hatte. Ben hatte sie heute zum ersten Mal in der Schulcafeteria gesehen. Vermutlich gehörte sie zu einem Fünftklässler, hatte er gedacht. Die meisten freiwilligen Helferinnen waren Mütter von Schülern des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums.
„Ich nehme gleich einen feuchten Lappen und wische den Rest auf.“ Sie nickte Ben freundlich zu. Der schluckte schwer. Suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, während er mit der Serviette an seinem Shirt herumrubbelte – mit dem Ergebnis, dass der Fleck sich nur noch vergrößerte.
„Nicht doch“, stammelte er. Mehr war nicht drin. Sie aber ignorierte seinen Einwand und kam hinter dem Tresen hervor. Mit dem feuchten Lappen in der Hand, ging sie direkt auf Johannes’ Tisch zu.
Bens Herz setzte für ein paar Schläge aus. In seinen Schläfen begann es heftig zu pochen. Seine Beine drohten wegzubrechen und in seiner Kehle brannte es, als ob er heiße Kohlen verschluckt hätte.
Sie wird doch wohl nicht?, dachte er panisch. Das kann sie nicht machen!
Sie konnte. Und wie sie konnte!
Ben wurde übel.
„Du bist wohl nicht bei Trost!“, schimpfte sie und funkelte Johannes finster an. „Ich hab genau gesehen, dass du dem Jungen mit Absicht ein Bein gestellt hast.“
Johannes zuckte mit den Schultern und sah sie unschuldig an. „Das halte ich aber für ein Gerücht“, säuselte er und erntete dafür ein paar Lacher von seiner Clique.
„Ach, und jetzt willst du wohl auch noch frech werden, was?“
„Frech? Ich bitte Sie, das würde ich mich doch niemals trauen.“
In der Cafeteria waren für einen Augenblick wieder sämtliche Geräusche verstummt. Alle starrten zu Johannes und der Frau. Auf Johannes’ Gesicht lag ein unverschämtes Grinsen, während die Frau sichtbare Mühe hatte, nicht die Beherrschung zu verlieren.
Schließlich gab sie nach. „Du solltest dich schämen“, schimpfte sie. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück zum Tresen.
Ben stand nach wie vor dort.
„Soll ich dir eine neue Portion Pommes spendieren?“, fragte sie ihn.
Er schüttelte wortlos den Kopf.
„Ach“, sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Jetzt habe ich vor lauter Ärger über diesen frechen Bengel ganz vergessen, dein kleines Malheur zu beseitigen.“
Sie streckte die Hand aus und deutete auf den schmierigen Rest Pommes frites, der noch immer auf dem Boden der Cafeteria klebte.
„Bitte ...“ Ben warf ihr einen flehenden Blick zu. „Geben Sie mir einfach das Wischtuch.“
„Thea, quatsch nicht so viel mit den Kids. Hilf mir lieber“, sagte eine andere Mutter hinter der Theke und stieß die Frau am Oberarm an.
„Ich komme ja schon“, erwiderte sie und reichte Ben augenzwinkernd das Tuch über den Tresen. „Die Pflicht ruft.“
Ben nahm ihr den Lappen aus der Hand und ging damit zu der Stelle, an der sich die Reste seines Mittagessens befanden. Er bückte sich, wischte alles auf und brachte der Frau den Wischlappen wieder zurück.
„Danke“, murmelte Ben und wollte gehen.
„Hey“, rief sie ihm hinterher.
Ben blieb widerwillig stehen. Schickte insgeheim ein Stoßgebet Richtung Himmel, dass sie ihn jetzt endlich in Ruhe ließe. Diese offensichtliche Fürsorge machte das Ganze nur noch schlimmer und vor allen Dingen peinlicher für ihn.
„Lass dich von diesen Idioten nicht unterkriegen.“ Sie lächelte ihm aufmunternd zu, bevor sie sich einem anderen Schüler zuwandte.
„Und, was darf ich dir Leckeres geben?“, hörte Ben sie schon im Weggehen sagen.
In der nächsten Stunde stand Mathe bei Herrn Seidel an. Ben saß bereits an seinem Tisch. Der Platz neben ihm war leer. Marcel war heute nicht in der Schule erschienen. Ben hatte sich deshalb schon in der ersten Stunde Sorgen gemacht. Gestern war es Marcel noch gut gegangen. Keine Anzeichen einer plötzlichen Krankheit. Das konnte nur bedeuten, dass es mal wieder Probleme mit seiner Mutter gegeben hatte.
Marcels Vater war vor über einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem litt seine Mutter unter starker Niedergeschlagenheit. Sie hatte völlig den Boden unter den Füßen verloren.
„In letzter Zeit verfällt sie immer mehr in Depressionen. Wenn sie sich in diesem Zustand befindet, kann ich sie nicht alleine lassen. Sonst tut sie sich noch was an. Also bleibe ich zu Hause, tröste sie und höre mir ihr Gejammer an“, hatte Marcel ihm erzählt.
So wird es wohl auch heute wieder gewesen sein, vermutete Ben.
Verdammter Mist! Wenn Marcel da gewesen wäre, dann hätte es garantiert diesen blöden Vorfall in der Cafeteria nicht gegeben. Marcel hätte ihn gewarnt. Ihm einen vielsagenden Blick zugeworfen. Dann wäre ihm Johannes’ unter dem Tisch vorschnellender Fuß aufgefallen. Er wäre ausgewichen und nicht ins Stolpern geraten. Hätte nicht vergeblich versucht, das Gleichgewicht zu halten, während er krampfhaft den Teller mit den Pommes umklammerte, bevor er der Länge nach zu Boden fiel. Und Susanna hätte ihn nicht mit diesem mitleidigen Blick bedacht. Das wäre alles nicht passiert, wenn Marcel heute in die Penne gekommen wäre.
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