Jepp, so konnte ich mich sehen lassen. Ich hatte zwar ein paar Kilos zu viel auf den Rippen, aber ein ziemlich hübsches Gesicht. Außerdem lag das Hauptaugenmerk der meisten Männer sowieso auf meinem Busen, der recht üppig war.
Zum hundertsten Mal fragte ich mich beim Blick in den Spiegel, ob ich meine Haare blondieren sollte. Es würde zu meinen graublauen Augen passen. Andererseits würden es ein paar Strähnen vielleicht auch tun. Seufzend zupfte ich eine Locke zurecht, die sich aus meiner Frisur gelöst hatte, zwirbelte sie zwischen meinen Fingern und steckte sie schließlich doch hinters Ohr.
Blond, nun ja, vielleicht in einem anderen Leben.
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September, 2133
Roman materialisierte sich neben Stépan in dessen großräumigem Büro. In der Mitte des riesigen Raumes befand sich ein Hologramm, das einen detaillierten Überblick über die Stadt lieferte und welches der Pir mit wenigen Handgriffen näher zoomen und somit einzelne Ausschnitte vergrößern konnte. „Nett.“, kommentierte Roman die kleine Spielerei, was Stépan mit einem Achselzucken hinnahm. „Kann ich dir etwas anbieten?“ Roman lehnte das Angebot des Clanvorsitzenden dankend ab. In den letzten Wochen hatte er viel von Stépan gelernt und sich dadurch größtenteils im Griff.
Dennoch war er jetzt aufgewühlt und wusste nicht, wie Stépan auf seine Frage reagieren würde. Tagelang hatte Roman gegrübelt und überlegt, wie er diese Angelegenheit vortragen sollte. Hatte nachgedacht, Ideen verworfen und von vorn angefangen.
Er wollte Samantha retten.
Er wollte Alan helfen.
Sein erster Gedanke war gewesen, sich an Humphrey zu wenden und diesen davon zu überzeugen, in etwa hundertzwanzig Jahren seine Saphi nicht unter den movere zu suchen. Doch erstens wusste Roman nicht, wo sich der Ker-Lon 1999 aufhielt, ob er damals bereits lebte und ob der seinen Rat befolgte. Ganz zu schweigen davon, welche Konsequenzen es für Sam hätte.
Ohne das Blut des Ker-Lon wäre sie dem Clan der Pir ausgeliefert gewesen, als dieser annahm, dass sie ihn getötet hatte. Sie wäre außerdem nicht in der Lage, bei dem leidlichen Problem mit den Elfen und Gargoyle zu helfen. Alan konnte er ebenfalls nicht informieren, da der erst ein paar Jahre später geboren werden würde und Roman bezweifelte, dass er mit Alans Vater sprechen konnte.
Oder sollte.
Sich selbst schloss er ebenfalls aus, da er zu dem Zeitpunkt von Sams Tod im Transformationsschlaf lag. Freilich könnte er Alan vorher davon überzeugen, aber dafür müsste Roman unweigerlich mit seinem eigenen Vater in Kontakt treten, der zu diesem Zeitpunkt noch gar keinen Sohn hatte.
Um ehrlich zu sein, fürchtete er sich vor den Konsequenzen, seinem Vater gegenüber zu stehen. Wenngleich er seine Mutter gern sehen würde, denn er konnte sich nicht an sie erinnern. Also blieb ihm nur übrig, eine Nachricht an Stépan zu übergeben. Vorher wollte er dem jetzigen Stépan jedoch die Frage stellen, ob der sie auch weiterleiten würde oder ob er Romans Eingreifen in die Zeit für einen frevelhaften Versuch hielt.
„Sprich, mein Bruder.“, forderte Stépan ihn auf und lehnte sich galant in seinem Sessel zurück, die Hände auf dem Schoß gefaltet und seine durchdringenden Augen auf Roman gerichtet. Geradeheraus offenbarte Roman dem alten Pir sein Anliegen und wartete geduldig auf eine Reaktion. „Das werde ich sehr gern für Sam tun. Bethany vermisst ihre Tante.“ Roman hakte nach, ob auch dessen damaliges Ich tun würde, worum Roman ihn heute bat. Stépan runzelte die Stirn, überlegte kurz und nickte dann langsam. „Ja, ich glaube, das werde ich. Du solltest jedoch einige Dinge wissen.“
Roman hörte zu und notierte sich das Wichtigste im Kopf. Vor allem musste er sich daran erinnern, dass damals die Revolutionen noch nicht stattgefunden hatten und die Pir ziemlich abgelegen außerhalb der Stadt residierten. Stépan überreichte ihm eine aufwendig gearbeitete Kette, an der ein fünfzackiges Amulett hing. Auf dieses waren verschiedene Symbole eingearbeitet, deren Bedeutung Roman sich von Stépan erklären ließ. „Sobald du sie mir zeigst, werde ich wissen, ob du vertrauenswürdig bist.“ Roman nickte und hängte sie sich um den Hals, damit sie ihm nicht abhandenkam.
Dann lehnten sich beide entspannt zurück, und Stépan begann zu erzählen, was Roman über das Jahr 1999 wissen musste. Wie er damals an Geld kam, wie die Autos funktionierten, die Handys, wo sich eine Unterkunft befand, die von Vampiren geleitet wurde und diverse andere Umstände, auf die er sich vorbereiten musste. Vor allem legte ihm Stépan ans Herz, dass er sich gründlich mit Brionys Leben auseinandersetzte, sofern ihm das irgendwie möglich war.
Abermals nahm Roman sich vor, Sams Eltern zu besuchen. Die Familienchronik befand sich laut Alan auf deren Dachboden. Es würde nicht schaden, wenn er mehr Informationen bekäme.
Nach gut drei Stunden bei Stépan teleportierte sich Roman auf das Anwesen seines Vaters, den er schon seit Wochen besuchen wollte. Ebenso sein Büro im geschäftigsten Teil der Innenstadt. Doch jedes Mal war ihm etwas dazwischen gekommen. Hauptsächlich sein neues, teils unkontrollierbares Temperament als Pir. Stépan hatte Jahrzehnte… nein… Jahrhunderte… oder gar mehr gehabt, um sich daran zu gewöhnen. Roman hatte die Launen als Pir innerhalb von nicht mal zwei Monaten überwiegend gemeistert, was Stépan mit großer Anerkennung zollte. Sobald Roman spürte, dass seine Triebe mit ihm durchgingen, zog er sofort seine geistigen Schilde hoch und dämpfte seine Empfindungen. Möglicherweise war das schnelle Begreifen ein Nebeneffekt seines Wesens als Briam.
So oder so hatte er jedoch noch einiges zu lernen. Aber wenn man bedachte, dass ihm dafür die Ewigkeit blieb, gab es keinen Grund zur Eile. Sein Geschäft, dessen Kontrolle er vor fünfzehn Jahren vorübergehend an einen Menschen abgegeben hatte, bis er wieder verfügbar war, konnte auch noch ein paar Wochen mehr oder weniger ohne ihn auskommen.
„Roman, mein Junge!“ Steward Bingham empfing seinen Sohn mit weit offenen Armen und drückte ihn fest an sich. „Ich freue mich, dich zu sehen. Wie geht es dir?“ Romans Vater, der keinen Tag älter aussah als er selbst, strich sich übers Kinn, das früher von einem Ziegenbärtchen bedeckt war, während er den Worten seines Sohnes lauschte. Wie alle Vampire besaß er ein eher androgynes Aussehen. Obgleich beide sich gedanklich unterhalten konnten, zogen sie das wörtliche Gespräch vor.
Steward bemerkte die Veränderung seines Sohnes recht deutlich. Wo früher ein spitzbübisches Lächeln zu entdecken war, sah er nun absolut gar nichts. Eine schöne Maske, die keinerlei Gefühle verriet. Das Beunruhigendste war jedoch, dass er sie auch nicht spüren konnte. Ebenso wenig wie die einst vorhandene familiäre Bindung. Doch Steward wusste, dass Roman noch vieles zu meistern hatte, ehe er ein sicheres Auftreten als Pir an den Tag legte. Dazu gehörte auch das beinah menschliche Widerspiegeln von Gefühlen, was nicht zwingend zu dem passen musste, was der Pir empfand oder plante.
„Du willst also wirklich in die Vergangenheit reisen, um Sams Ahnin zu retten?“ Roman nickte. „Und wenn es klappt, auch um Sams Willen. Sie hätte nicht sterben müssen.“ Steward verfiel in grüblerisches Schweigen. „Was, wenn es vom Schicksal nicht vorgesehen ist, dass Sam lebt?“ Roman zuckte mit den Achseln. „Dann kann nichts ihren Tod verhindern. Allerdings weiß ich von Sam, dass es nie vorgesehen war, dass sie dem Ker-Lon begegnet. Somit könnte ihr Tod nicht in ihr vorgesehenes Schicksal passen. Wir werden sehen.“ Steward fuhr sich durch die Haare. „Wirst du es Alan sagen?“ Roman schüttelte langsam den Kopf.
Nach gründlicher Überlegung stand sein Entschluss, Alans Hoffnungen nicht zu schüren, wo es möglicherweise gar keine gab, fest. Nur eine Frage konnte er nicht beantworten: Wie würde sich die jetzige Zeit verändern, wenn er Sam und Briony tatsächlich helfen konnte? Nun… es würde sich zeigen.
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