Roman verlor keine Zeit, obwohl Zeit etwas war, was ihm ausreichend zur Verfügung stand. Welchen Unterschied machte es schon, ob er heute oder in zwanzig Jahren in die Vergangenheit reiste? Für ihn einen großen, auch wenn das Ergebnis dasselbe wäre.
Stépan hingegen bremste seinen Tatendrang. „Lass uns reden, Bruder.“ Roman fügte sich dessen Willen.
In dem einen Moment standen sie in der Residenz der Pir, im nächsten mitten in der Stadt in einem der vielen Parks. Es hatte sich nichts verändert. Die Menschen sahen nach wie vor ängstlich zu einem wie ihm, um dann schnell ihre Blicke zu senken. Viele jedoch sahen Roman an, als überlegten sie, wie sie ihm nahe kommen könnten, nicht nur Frauen. Vampire fielen auf, wenn sie es darauf anlegten. Pir hingegen konnten sich, wenn sie wollten, nahezu unbemerkt unter Menschen bewegen.
Roman runzelte die Stirn, denn die Menschen um ihn herum schienen Stépan überhaupt nicht wahrzunehmen. „Du musst einige fundamentale Dinge lernen, bevor du gehen kannst.“
Roman schwieg und hörte zu.
Je mehr Stépan ihm erklärte und zeigte, umso deutlicher wurde Roman bewusst, dass er nur einen Bruchteil dessen wusste, was die Pir wirklich darstellten. Wie grundlegend sie sich von den Vampiren unterschieden. Wie gefährlich sie tatsächlich waren. Wie unberechenbar. Roman musste lernen, seine Sinne und Gefühle rechtzeitig zu dämpfen. Stets musste er auf der Hut sein. Wenn er zu spät handelte, kämen die Auswirkungen einer Apokalypse gleich.
„Du musst dich häufiger nähren, als zu deiner Zeit als Vampir. Es ist jedoch nicht zwingend notwendig, den Menschen dafür nahe zu kommen. Du kannst kleine Mengen ihres Blutes im Vorbeigehen zu dir nehmen. Wir Pir wirken wie ein Magnet auf das Blut der Menschen. Du solltest in Friedenszeiten nur aufpassen, nicht zu viel zu nehmen, wenn du nicht vorhast zu töten. All das kannst du mit der Zeit bewusst kontrollieren. Es sei denn, du bist verletzt. Dann ist es schwieriger, wenn auch nicht gänzlich unmöglich.“
Stépan zwinkerte verschmitzt. „Wir töten. Es ist unsere Natur. Vergiss das nicht. Außerdem wirst du als Single das Grundlegende viel öfter miteinander verbinden.“ Sex und Blut. Roman verstand, was Stépan ihm sagte. Mehr als ihm lieb war. Die Menschen auf dem Gebiet der Pir hatte er getötet. Himmel, er war hungrig gewesen! Ohne zu zögern, war er seiner Natur nachgekommen. Ab sofort musste er besser aufpassen. Nicht, dass er als Vampir nicht auch ab und an ein Leben genommen hatte. Meist im Rausch der Lust oder im Rausch des Blutes, aber auch, wenn es das Geschäft verlangte. Sein Beruf, oder vielmehr seine Berufung.
Doch die Auswirkungen eines Pir waren weitaus gefährlicher. Roman erkannte, dass ein Pir nichts – oder nicht viel – mit einem Vampir gemein hatte. Vielmehr glichen sie den Dämonen. Und da er obendrein ein Briam war, dürften seine Kräfte noch gravierendere Einschnitte bewirken. „Ab und an musst du dich deinen Gefühlen und Trieben überlassen. Wenn du das tust, ist deine Kraft uneingeschränkt. Zumindest wäre es nicht ratsam, sie einzuschränken.“ Roman verstand. Seltsamerweise machte ihm das nichts aus. Er war ein Pir. Von jetzt an bis in alle Ewigkeit. Das gefährlichste auf der Erde wandelnde Wesen.
Es gefiel ihm!
„Komm, lass uns ein wenig… Spaß haben.“, grinste Stépan mit einem Blick, der Roman als Vampir hätte das Blut in den Adern gefrieren lassen. Jetzt jedoch brachte dieser Romans Blut in Wallung und ließ ihn vorfreudig zittern.
Seine zu einem Zopf geflochtenen Haare wehten in einem Wind, der ihn und den anderen Pir umgab, während sie sich wie Schatten zwischen den Menschen bewegten. Schneller als für deren Augen sichtbar. Mit einem Kreischen reagierten die Menschen auf das plötzliche Sichtbarwerden der Männer, durch deren Rücken im selben Moment riesige Schwingen brachen, mit denen sie sich anmutig in die Höhe schraubten. Bring sie zum Schweigen, mein Bruder! , wies Stépan ihn an. Roman verharrte mitten in der Luft, bildete ein flimmerndes Magiefeld und schickte es über die Menschen, die daraufhin zu Boden sackten. Er wusste, wenn er dieses verstärkte, würde keiner der Menschen wieder aufstehen. Doch die momentane Energiemenge reichte aus, um jeden der Anwesenden vergessen zu lassen, was in den letzten Minuten geschehen war.
Anerkennend nickte Stépan und wies ihm mit dem Kopf in die Richtung, in die sie sich begeben würden.
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1998, 31. Dezember
„Dieser Arsch hat was?“ Ungläubig schaute mich meine Kollegin an, die gleichzeitig auch eine Freundin war. Ich seufzte. „Du hast schon richtig gehört.“ Rita schüttelte ihren Kopf. „So ein Blödmann. Ich hoffe, du hast ihm den Laufpass gegeben.“ Das hatte ich. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Sven war genau der Typ Mann, den ich mir als Freund immer gewünscht hatte.
Na ja, fast.
Die Untreue gehörte nicht dazu. Ebenso wenig seine einschmeichelnden Lügen. Bloß gut, dass ich es schon jetzt herausgefunden hatte; nicht erst nach ein paar Jahren. Zwei Monate waren keine lange Zeit für eine Beziehung – sie zu beenden tat trotzdem weh. „Na komm, Rita, die Pause ist vorbei. Nur noch zwei Stunden. Dann können wir uns auf heute Abend freuen.“ Rita holte tief Luft. „Du sagst es! Party klingt so viel besser als Arbeit.“, grinste sie. „Soll ich dich abholen oder macht das Anja?“ Seitdem ich eine eigene kleine Wohnung in der Stadt bewohnte, sah ich Anja viel öfter. Nicht ganz so oft, wie zu der Zeit, als ich bei ihr wohnte – klar. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde ich immer noch bei ihr wohnen. Natürlich würde sie mich auch mit zur Party nehmen. Ich erinnerte mich kurz, dass ich mit meinen Eltern hätte feiern sollen. Doch ich hatte mich entschlossen, nicht heimzufahren. Mal ehrlich, was sollte ich dort? Schunkeln vorm Fernseher? Das konnte ich tun, wenn ich fünfzig war. Oder sechzig. Benjamin feierte mit seiner Freundin, nebst einigen Freunden. Seitdem mein Bruder mit Simone liiert war, war er viel ruhiger geworden. Kaum zu glauben, dass die zwei sich erst fünf Wochen kannten. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass sie zusammen blieben.
Sie schienen füreinander gemacht zu sein.
Tja, dasselbe hatte ich bei Sven und mir angenommen.
Während ich an der Kasse saß, verdrängte ich alle anderen Gedanken. Das Eintippen der Preise konnte zermürbend sein, aber heute fühlte ich mich dadurch lebendig. Vielleicht, weil ich mich auf den Feierabend und die Silvesterparty freute und jedes Klicken einen Countdown einleitete. Würde ich in einem anderen Markt arbeiten, säße ich an einer Scannerkasse. Aber Aldi ließ sich damit Zeit. Angeblich war das Eintippen schneller als das Lesen des Codes. Klick, klick, klick… Abkassieren, freundlich lächeln, einen guten Rutsch wünschen. Fast alle Kunden wünschten mir dasselbe. Genau wie an Weihnachten, an dem einen so gut wie jeder Einkäufer ein frohes Fest wünschte.
Das liebte ich am Dezember.
Genau wie den Schnee, der seinen weißen, glitzernden Schleier über die Stadt gelegt hatte und den Kundenandrang sichtlich verebben ließ.
Wir schlossen pünktlich um zwei. Doch ehe ich das Geschäft verließ und in meiner nur zwei Straßen entfernten Wohnung eintrudelte, war es bereits kurz nach vier. Schnell wärmte ich mir den Rest des gestrigen Mittags in der Mikrowelle auf und entschied mich für ein entspannendes Bad. Am Abend bliebe keine Zeit dafür.
Nachdem ich meine langen Haare geföhnt und meine durch die kalte Jahreszeit trockene Haut mit Bodylotion eingecremt hatte, schlüpfte ich in eine alte Jogginghose und einen kuscheligen, rostroten Pullover. Eigentlich wollte ich anschließend nur fünf Minuten auf meiner Couch die Augen schließen, doch als ich wieder aufwachte, war es fast acht. Himmel, Arsch und Wolkenbruch! Anja würde in ein paar Minuten da sein, und ich war nicht fertig. Rasend schnell sprang ich auf, sprintete in mein Schlafzimmer und zog mich in Windeseile um. Ein paar ausgewaschene Jeans - auf die ich ein paar Strasssteine geklebt hatte, um sie ein wenig aufzupeppen - und ein beigefarbener, dünner Rollkragenpullover, schienen mir passend zu sein. Ein ordentliches Make-up und schnell noch die Haare hochstecken, etwas Parfum – Chaos, mein momentaner Lieblingsduft, obwohl es ein Geschenk von Sven war – und fertig.
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