Sich erneut in die Lüfte schraubend, genoss Roman die neu erworbene Fähigkeit des Fliegens. Eine Weile. Dann besann er sich, landete sanft auf dem Boden, wandelte sich in sein ursprüngliches Selbst zurück und teleportierte sich zum Anwesen seines Vaters. Außer diesem wussten nur wenige, dass er die Order zum Pir erhalten hatte. Vielleicht wusste es Sam. Neugierig genug war sie. Sam . Er lächelte beim Gedanken an sie. Seine movere . Er liebte Sam. Und auch auf die Gefahr hin, dass sein alter Freund Alan mit der Frau, die Roman liebte, eine Beziehung eingegangen war, musste er ihr seine Liebe gestehen. Im selben Moment umwölkte sich sein Gesicht. Was sollte er tun, wenn Alan und Sam zueinandergefunden hatten? Schließlich wäre es selbstsüchtig von ihm glauben zu wollen, dass sie all die Jahre auf ihn gewartet hatte. Es waren 15 Jahre vergangen. 15 Jahre, in denen Alan durchaus seine Liebe zu Sam erkannt haben könnte. Würde sie sich trotzdem für ihn entscheiden? Jetzt, da er ein Pir war, könnte Roman ihr ewige Jugend schenken. Unsterblichkeit. An seiner Seite. Wenn sie es wollte. Und bei allen Göttern, er hoffte , dass es ihr Wunsch wäre.
Sowie sich Roman auf dem Anwesen seines Vaters einfand, suchte er den imaginären Kontakt zu diesem. Er konnte ihn nicht orten. Auch zu Sam konnte er keine Verbindung aufnehmen. Seltsam. Ach… wie dumm von ihm! Als Pir war die Verbindung zu seinem Vater erloschen. Ebenso die Bindung zu Sam. Aber müsste die nicht nach wie vor vorhanden sein? Roman schluckte. Was, wenn er seinen Status als Briam ebenso verloren hatte? Er horchte in sich. Die Magie der Ker-Lon lebte in ihm. Warum konnte er trotzdem keine Signale von Sam empfangen? „Vater?“
Völlig lautlos streifte Roman durch Stewards Anwesen. Ein paar Bedienstete huschten mit ehrfürchtigem Blick an ihm vorbei. Aber von seinem Vater weit und breit keine Spur. „Hey!“, sprach er einen Mann an, der eben an ihm vorbei flitzte. „Wo ist mein Vater?“ Der ältere Mann schluckte. „Sie meinen Herrn Bingham?“ Nein verdammt, er meinte den Wettermann! „Herr Bingham ist auf Geschäftsreise. Vor morgen Mittag erwarten wir ihn nicht zurück.“ Roman kniff die Augen zusammen.
Er besaß wirklich ein wunderbares Timing, nicht wahr?
Warum hatte er sich eigentlich die Mühe gemacht den Mann zu fragen? Es wäre viel einfacher gewesen, in dessen Gedanken einzutauchen. Doch manchmal war es erträglicher, nicht von menschlichen Gefühlen und Gedanken überrannt zu werden.
Ohne ein weiteres Wort löste Roman sich auf und teleportierte sich zu seinem eigenen Anwesen. „Willkommen zurück.“ Ein Mann Mitte 60 blickte ihn gütig an. Roman brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es sich bei diesem um Edgar handelte. „Vielen Dank, Edgar. Wie ich sehe, geht es Ihnen gut.“ Er klopfte seinem Angestellten auf die Schulter, während er sein Heim musterte. Zumindest eins davon. Die anderen Häuser – nun, die kamen später. Immer schön eins nach dem anderen. Er hatte viel Zeit.
Nichts hatte sich verändert. Alles war ordentlich und sauber. So, wie er es verlassen hatte. Edgar räusperte sich. „Kann ich Ihnen etwas zu Essen bereiten?“ Kopfschüttelnd lehnte Roman ab. „Jetzt nicht. Ich habe noch einiges zu erledigen.“ Zielstrebig ging er in sein Arbeitszimmer, das ebenfalls tadellos sauber war. Kein Staubkrümelchen war zu entdecken. Er sollte Edgar eine Gehaltserhöhung geben.
Oder einen Bonus.
Oder beides.
Seinen Schreibtisch umrundend, nahm er auf dem schwarzen, ledernen Chefsessel Platz und griff zum Telefon. Er wollte Sam besuchen. Gleich danach Alan. Seine Vorahnung schien sich zu bewahrheiten, als Sam nicht an ihr Festnetztelefon ging. Und leider auch nicht an ihr Handy. Beide Nummern waren nicht vergeben. Entweder lebte sie mit Alan zusammen oder war umgezogen. Und hatte neue Telefonnummern. Also wählte er die Nummer seines Freundes. Wenigstens klingelte es, doch niemand hob ab. Ärgerlich. Nun, dann sollte er wohl seinem neuen Boss einen Besuch abstatten. Auch wenn ihm der Gedanke einen Chef zu haben, überhaupt nicht behagte. Vielleicht sollte er sich vorher einen Überblick beschaffen, was sich in den letzten 15 Jahren verändert hatte? Nein, entschied Roman, Stépan konnte ihm ganz sicher einen Crashkurs geben. Nicht, dass ihn Politik großartig interessierte. Aber technische Fortschritte verpasste er nur ungern. Anschließend musste er nach seinen eigenen Geschäften sehen.
Stépan schaffte es tatsächlich in kürzester Zeit, Roman die wichtigsten Dinge zu vermitteln. Politisch hatte sich nicht allzu viel getan. Technisch leider auch nicht. Aber er hatte einen Putschversuch der Hexen verpasst. Ebenso wie mehrere kleine Auseinandersetzungen mit verschiedenen Dämonengruppen und die Anerkennung der Naga als werähnliche Wesen durch Ribberts und Alans Rudel. Dabei hatten die Naga vom Evolutionsstandpunkt her mit Werwesen so viel gemein wie ein Fliegenpilz mit einer Fliege. Und – Überraschung – Alan hatte seinen Status als Alpha vor ein paar Jahren an den Nagel gehängt.
Den Grund verschwieg ihm Stépan, aber Roman konnte ihn sich denken. Mist! Er hatte Sam also unweigerlich an Alan verloren. Innerlich verfluchte er diesen Umstand. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, obwohl er ahnte, dass Stépan diesen Schwachpunkt längst erkannt hatte. Sein Herz bekam ein paar feine Risse. Eine junge Frau betrat den Raum, mit einem Lächeln auf den Lippen und ganz offensichtlich ohne jegliche Angst vor Stépan. Dabei war sie ein Mensch. Eine movere . Etwas an ihr kam Roman bekannt vor, doch er vermochte nicht den Finger drauf zu legen. Stumm verfolgte er den Blick von Stépan, der liebevoll über die zierliche Gestalt der Frau wanderte. Beinah wäre ihm die Kinnlade nach unten gefallen, als er begriff, dass diese Frau Stépans Ehefrau war. „Hallo Roman.“, grüßte sie und lachte schelmisch, als er sie irritiert ansah. Gut, solche Gemütsentgleisungen musste er noch unter Kontrolle bekommen. Beinah automatisch dämpfte er seine Sinne, so dass auch jegliche Gefühle abgemildert wurden. „Du erkennst sie nicht, hm? Darf ich dir vorstellen? Das ist Bethany, meine Frau. Die Nichte von…“ „…Sam.“, vollendete Roman Stépans Satz und neigte höflich seinen Kopf. „Du bist erwachsen geworden.“ Bethany lächelte. „Das soll vorkommen. Du hingegen hast dich gar nicht verändert. Äußerlich.“ Sie wandte sich an Stépan. Augenblicklich wusste Roman, dass die beiden sich gedanklich unterhielten, wovon er ausgeschlossen blieb. Bildete er sich das ein oder lag Bedauern in Stépans Augen? Er wusste, er durfte es nicht tun. Er sollte es nicht tun. Theoretisch konnte er es auch nicht. Aber zu groß war die Neugier, was die beiden vor ihm verheimlichten, und er las in Bethanys Gedanken. Ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass es nicht möglich sein dürfte, da sie an Stépan gebunden war. Augenblicklich erstarrte Roman, noch ehe Stépan und Bethany ihn zurückhalten konnten. Oder warnen. Keuchend holte er Luft und taumelte rückwärts. Das war nicht wahr. Unmöglich. Das durfte nicht sein. Es war eine Lüge ! „Roman, es tut mir leid.“ Stépans Worte drangen wie durch dicke Mauern in Romans Gehirn, während Bethany fürsorglich seinen Arm ergriff, um ihn zu stützen. Zornig schüttelte er sie ab. „Ihr lügt!“, schrie er und raufte sich die Haare. „Das… ist nicht wahr!“ Bethany tauschte einen kurzen Blick mit ihrem Mann aus. „Roman, es tut mir leid. Aber es ist die Wahrheit. Niemand konnte etwas tun.“ Seine Kehle verengte sich. Es fiel ihm schwer, zu atmen. Roman hatte immer gedacht, ein Pir könne nicht weinen. Jetzt wusste er es besser. Heiß und bitter brannten die Tränen in seinen Augen, während er versuchte, die Information zu verarbeiten. Samantha war tot. „Wann?“ Seine Stimme klang heiser. Gebrochen. Wie sein Herz; seine Träume und Hoffnungen. „Vor fast acht Jahren.“, sagte Bethany. „Die Energie, die sie als Saphi zu bewältigen hatte, war für ihren Organismus zu viel gewesen. Ihr Herz war nachhaltig geschädigt worden. Nur dank deines und dem Blut deines Vaters, hat sie es überhaupt so lange geschafft. Sie ist eines Morgens einfach nicht mehr aufgewacht. Hätte es Hinweise gegeben, hätten wir vielleicht etwas tun können. Aber so… Ohne die Obduktion hätten wir nicht mal gewusst, woran sie gestorben ist.“ Roman schluckte und dämpfte seine Sinne, die er durch den Schock zugelassen hatte. „Sie hat Kinder?“ Bethany nickte. „Eine Tochter, Sarah und einen Sohn, John. Er trägt als Beinamen nicht nur Alans, sondern auch deinen. Sie hat dich nicht vergessen, weißt du?“ Ein tröstlicher Gedanke, wenn auch bitter. Was würde Roman dafür geben, wenn er noch ein einziges Mal mit ihr reden könnte! Wenn er… Tief einatmend schaltete er seine Sinne vollkommen ab. Er brauchte einen klaren Kopf. Und Zeit. „Bevor ich meinen Platz in deinen Reihen einnehme, erlaube mir noch ein wenig Freiheit.“ Stépan nickte zustimmend. „So viel du brauchst, Bruder.“ Roman trat einen Schritt zurück und verschwand.
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