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1998, Mitte August
„Verfluchte Scheißkarre!“ Wütend schlug ich mit den Händen auf das Lenkrad der altersschwachen Klapperkiste, die mir mein Bruder besorgt hatte. Der läuft wie am Schnürchen … ha, von wegen! Das war jetzt das fünfte Mal in diesem Monat, dass das blöde Ding einfach stehen blieb. Kurz vor dem Abwürgen des Motors klang es dabei jedes Mal so, als ob ein Traktor an einer Magenkolik litt. Zornig stieg ich aus, schmiss die Tür krachend zu und trat mit dem Fuß gegen das Vorderrad. Das war schmerzhaft, linderte aber nicht meine Wut. Zornig trat ich auch mit dem anderen Fuß dagegen. Jetzt schmerzten beide. Schön blöd! Deftige Flüche ausstoßend, die zumeist mit menschlichen Exkrementen, Autos und Brüdern im Allgemeinen zu tun hatten, humpelte ich um die Schrottkiste herum, riss die Beifahrertür auf, kramte in meiner Handtasche nach meinem niegelnagelneuen Nokia 5110, fischte es heraus, drückte den Knopf der Verriegelung und warf schwungvoll krachend die Autotür zu. Zuallererst musste ich mich ein wenig beruhigen und Prioritäten setzen. Wen rief ich zuerst an? Benjamin? Nein, zuerst Anja. Dann Benjamin. Und danach den Abschleppdienst. Wozu war ein neun Jahre älterer Bruder gut, wenn er ein Auto nicht von einem Fahrrad unterscheiden konnte? Nach dem zweiten Klingelton nahm Anja ab. Abwartend hielt ich das Handy auf Armeslänge von mir gestreckt, bis sie ihre Schimpftirade wegen meiner ganz offensichtlichen Verspätung beendet hatte. „Schon wieder das Auto? Meine Güte, es wäre billiger, du würdest es auf den Schrottplatz schaffen.“ Diese Meinung teilte ich. Allerdings konnte ich mir kein neues Auto leisten und ohne Auto käme ich nicht zur Arbeit. Und ohne Arbeit… „Ja, wem sagst du das. Du hast nicht zufällig einen Geldesel auf deinem Balkon stehen? Meiner ist leider geflohen.“, witzelte ich, obwohl mir überhaupt nicht nach Scherzen zumute war. Aber ich konnte schlecht mitten auf der Straße in einen Heulkrampf ausbrechen. Noch dazu in voller Montur meiner mittelalterlichen Gewandung. Bloß gut, dass ich das Korsett noch nicht angelegt hatte. Dafür benötigte ich sowieso Anjas Hilfe. „Wie lange wird es dauern?“ Wie lange ich noch hier rum stünde? „Ich weiß es nicht. Ich ruf den Abschleppdienst an, sage denen, dass der Schlüssel steckt und dass sie das Auto… ach, ich weiß auch nicht. Dann muss ich Benjamin noch ordentlich die Meinung geigen. In der Zwischenzeit hoffe ich einfach, dass du kurzfristig umdisponieren und mich abholen kannst. Bitte?“ Erleichtert hörte ich ihre Zustimmung, beendete das Gespräch und wählte die Nummer des Abschleppdienstes, der mir bereits die letzten vier Mal geholfen hatte. Besetzt, schöner Mist. Über mir verdunkelte sich allmählich der Himmel. Das sah nicht gut aus. Nun ja, wenigstens hatte ich noch ein Dach… „Oh so eine riesengroße… Scheiße… Arrrgh!“ Mit der Erkenntnis, dass ich mich aus meinem Auto ausgesperrt hatte, fing es auch schon an zu tröpfeln. Und binnen weniger Sekunden goss es wie aus Kübeln. Mein Schirm lag im Auto. Ebenso wie das Mieder, mein Umhang und meine Tasche. Der Schlüssel steckte noch. Wie hatte ich nur beide Verriegelungsknöpfe nach unten drücken können, wenn der blöde Schlüssel noch steckte? Macht der Gewohnheit… vermutlich. Nur zog ich im Normalfall den Schlüssel ab, bevor ich ausstieg. Oh, toll, Hagel. Herr Gott nochmal, hatte ich denn heute das Pech gemietet? Vor lauter Regen und Hagel konnte ich kaum einen Meter weit sehen. Das, was ich sah, schien nicht im Entferntesten zum Einschlagen einer Autoscheibe geeignet zu sein. Noch nicht mal festes Schuhwerk hatte ich an. Lediglich ein paar grobe Leinenschuhe; passend für das Mittelalter. Sehr unpassend zum Einbrechen in das eigene Auto.
Der erste Blitz schlug keine zehn Meter von mir entfernt ein. Das ist jetzt nicht wahr! Nur kurz darauf folge ein ohrenbetäubender Krach, als würde sich die Erde spalten. Panisch schaute ich mich um. Ringsherum nur Wiese, ich und mein Auto. Angst vor Gewitter hatte ich keine. Aber ich war auch nicht so blöd zu glauben, dass ein Gewitter ungefährlich war. Im Auto wäre ich sicher, aber außerhalb? Anja, bitte, beeil dich. Ich will mich nicht in einen Straßengraben werfen, um vor den Blitzen sicher zu sein. In einem Graben konnte alles Mögliche sein. Tierkadaver, Schlamm, Morast, krabbelnde Insekten, Spinnen, ... Leichen. Mich schauderte. Mit dem Einschlagen des zweiten Blitzes stürzte ich mich ohne einen zweiten Gedanken in den Graben. Dann lieber war ich dreckig – und hatte morgen Ekelblasen – als tot. Theoretisch war auch das ein Fehler. Denn Nässe und Energie… Ich hatte Glück im Unglück.
Das nette kleine Sommergewitter dauerte gefühlt hundert Jahre. Grob geschätzt nicht mal zwanzig Minuten. Und von Anja weit und breit keine Spur. Ich gab ein wunderschönes Bild ab. Klatschnasse mit Grashalmen dekorierte Haare, die mir im Gesicht, auf dem Busen und auf dem Rücken klebten, ein braunes, feuchtes Kleid, das an meinen Beinen haftete, pitschnasse Schuhe, Wasser- und Schlammtropfen, die von meiner Nase liefen, fest zusammengekniffene Lippen und zu Fäusten geballte Hände, in denen mein Handy vermutlich seine letzten Atemzüge von sich gab. Ein Sommergewitter war erfrischend.
Sofern man es im Trockenen beobachten konnte.
Das Regenwasser jedoch zu fühlen , glich dem Bad in einem Kübel voll Eiswasser. Obendrein gespickt mit Hagelkörnern, die sich wie Peitschenhiebe angefühlt hatten. Ich zitterte so heftig, dass ich mir auf die mit Schlamm und Grashalmen verunzierten Lippen biss. Mir den Schmutz aus dem Gesicht zu wischen, war sinnlos. Ich bestand quasi nur noch aus Dreck. Anja würde sich freuen.
Ich stand noch gut eine viertel Stunde wie ein begossener Pudel mitten in der Botanik und fragte mich, ob ich in letzter Zeit irgendeiner Schicksalsgöttin auf die schicken Treter gekotzt hatte. Bloß gut, dass seit meinem unfreiwilligem Zwischenstopp niemand an mir vorbei gefahren war. Ich war mir tausendprozentig sicher, diejenigen hätten bloß gegafft anstatt mir zu helfen. Und sich dann vor lauter Lachen in die Hosen gepisst.
Endlich sah ich Anjas Wagen, der kurz darauf hinter meinem stoppte. Mit hochgezogenen Augenbrauen und einer Miene, als wüsste sie nicht, ob sie lachen, mich tadeln oder lieber gar nichts sagen sollte, stieg sie aus. „War das Kleid nicht letztens noch grün?“ Hmhm, war es. Vor meinem unfreiwilligen Schlammbad war es definitiv ein sehr schönes Lindgrün gewesen. „Wieso bist du denn nicht ins Auto?“ Ich schnaubte mir einen Grashalm von der Nase. „Hab mich ausgesperrt.“ Fürsorglich legte Anja mir eine Decke um die Schultern, die sie immer in ihrem Kofferraum mitführte. Dadurch fühlte ich mich weder sauberer noch schicker, aber wenigstens hörte das Zittern auf. „Wann kommt der Abschleppdienst?“ Mit einem schwachen Lächeln erklärte ich ihr, dass ich den noch nicht erreicht hatte und die Nummer zusammen mit dem Handy wahrscheinlich abgesoffen war. Ohne zu Zögern schritt Anja hoch erhobenen Hauptes zu ihrem Wagen, schnappte sich den Wagenheber, wartete auf mein Nicken und schlug die Beifahrerscheibe ein. Mit wenigen Handgriffen war die Tür entriegelt, das Glas notdürftig beseitigt und meine Besitztümer in Anjas Auto verstaut. „Na los. Besser wird’s nicht. Wir fahren zu mir, dort werfe ich dich in die Wanne und solange du einweichst, kümmere ich mich um die Telefonate.“ Ich brachte ein schwaches Nicken zustande, plumpste mit einem erleichterten Seufzen auf den Beifahrersitz, schnallte mich an und war froh, dass mir inmitten dieses Alptraums von einem Nachmittag wenigstens ein Lichtblick vergönnt war.
Zwei Stunden später war ich sauber, mir war warm und dank des Rotweins, den Anja kredenzte, kam mir der Nachmittag nicht mehr allzu schrecklich vor. Mein Auto stand jetzt wahrscheinlich schon auf dem Hof einer Werkstatt, obwohl ich mir unsicher war, ob sich eine Reparatur überhaupt noch lohnte.
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