Er führte mich an einen festlich gedeckten Tisch, zog mir einen Stuhl heraus und bat mich Platz zu nehmen. „Ich hoffe, Sie mögen Chateaubriand?“ Das war ein Wein, oder? Gehört hatte ich das Wort schon mal. „Das werde ich heraus finden.“ Mit einem Lächeln konnte ich hoffentlich meine Unwissenheit kaschieren. „Das stimmt. Wein dazu?“ Äh… Stépan schmunzelte nicht, aber ich war mir sicher, dass er sich über mich lustig machte. Sag ja, Briony. Du musst das Glas ja nicht austrinken. „Gern.“ Dankbar, dass Roman sich eingemischt hatte, fragte ich ihn, was ich gleich auf dem Teller hätte. Grob gesagt, ein Rindersteak. Puh, ich hatte schon fast befürchtet, der Pir würde mir Tintenfisch oder sowas kredenzen. Stépan ließ mich allein am Tisch und tauchte nur wenig später mit zwei Tellern in der einen Hand, zwei Gläsern und einer Flasche Wein in der zweiten wieder auf. Überraschung! Ich hatte angenommen, er würde lediglich mit den Fingern schnippen, damit das Essen wie von Zauberhand auf dem Tisch erschien. Entweder durch Bedienstete oder so, wie er mich hierher gezappt hatte. Galant setzte er die Teller und die Gläser ab, öffnete den Wein und füllte diesen ein. Dann setzte er sich. „Guten Appetit, Briony.“ Guten Appetit? Echt jetzt? „Danke. Gleichfalls.“ Er zwinkerte mir zu und begann zu essen. Ich hatte nichts im Auge. Trotzdem musste ich blinzeln. Der Mann aß! War er nicht eine – wie hatte Roman gesagt – getunte Variante eines Vampirs? Die tranken Blut. Wusste jedes Kind. Vielleicht aber auch nicht. Immerhin wusste auch jedes Kind, dass sie keinen Knoblauch mochten und in der Sonne sowie beim Anblick eines Kreuzes verbrutzelten. Zudem wollte er mit mir sprechen. Während des Essens offenbar nicht. War ihm so langweilig oder war er so einsam, dass er sich fremde Personen zum Mittag einladen musste? „Denken Sie nicht so viel, Briony. Genießen Sie ihr Filet.“ Argh, ich musste unbedingt meine Gedanken zensieren. Die waren taktlos. Allerdings war es auch unhöflich, meinen Gedanken zu lauschen und diese zu kommentieren! Na gut. Wo ich schon einmal hier war und das Essen so lecker duftete…
Eine gute halbe Stunde später saß ich tiefenentspannt nach hinten auf den Stuhl gelehnt und strich mir über den Bauch. Lecker. Sehr, sehr lecker das Essen. Besser, als in einem Restaurant. Obendrein ein netter Gastgeber mit sehr viel Charme und der Gabe, ein locker, leichtes Gespräch zu führen. Bisher hatte er sich jedoch nicht an das eigentliche Thema gewagt. Ich betrachtete ihn. Er war wirklich einer der schönsten Männer, die ich je gesehen hatte. Wie alt er wohl war? So jung, wie er aussah oder um einiges älter. „Fragen Sie doch einfach.“ Bitte, das konnte er haben. „Wie alt sind Sie?“ Er ließ seine Augenbrauen hüpfen. „Alt.“ Eine sehr präzise Antwort. Vielen Dank auch! „Haben Sie im Mittelalter schon gelebt?“
„Sie interessieren sich dafür?“ Begeistert nickend sprudelten die Worte aus mir heraus. „Sie wollen es sehen?“ Ja, ich weiß, mein Gesicht schlief ein. Es sehen wollen? Ich schüttelte den Kopf. „Nein, will ich nicht. Nur alles darüber wissen. Ich weiß, dass es bei weitem nicht so romantisch war, wie uns viele Schriftsteller weismachen wollen. Aber ich finde dieses Zeitalter wahnsinnig spannend.“ „Ich biete ihnen die Gelegenheit, meine Erinnerungen zu sehen und Sie lehnen ab. Warum?“ Heftig schluckend verknotete ich meine Hände ineinander. „Aus Angst, mehr zu sehen, als ich sehen will.“ Stépan nickte. „Wenigstens sind Sie ehrlich.“ Er tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab, griff nach seinem Weinglas und trank einen Schluck. Man! Mein Mund wurde ganz trocken. Ich sollte vielleicht auch noch etwas von dem Wein trinken. Nein, besser nicht. Roman, bist du da? Das gesamte Essen über hatte ich nichts von ihm gehört. An deiner Seite. Erleichterung überschwemmte mich. Ein absolut surreales Gefühl. Denn er würde mir kein bisschen helfen können, sollte Stépan vom charmanten Gastgeber zum blutdurstigen Monster mutieren. „Noch Wein?“ Ich lehnte dankend ab. Schließlich war ich hier zu einem Gespräch und nicht auf einem Date. Wollte er mich betrunken machen? „Keineswegs. Ich möchte nur, dass sie sich entspannen.“ Als ob ich in Graf Draculas Nähe entspannen konnte! Zugegeben, er war sehr nett. Sehr charmant. Aber laut Romans Aussage konnte er auch anders. Diese andere Seite mochte ich nur ungern erleben. „Geht klar. Vielen Dank für das super Essen. Und jetzt… können wir reden? Deswegen bin ich doch hier.“ Er nickte. „Können wir. Kommen Sie. Gehen wir raus. Ein wenig die Sonne genießen.“ Ich musste ihm Anerkennung zollen, weil er alles tat, damit ich mich wohl fühlte. Andererseits hatte auch die Hexe von Hänsel und Gretel die Kinder mit falschen Tatsachen in ihr Haus gelockt. In Stépans Haus war ich schon… und in den Ofen schieben wollte er mich sowieso nicht. Ebenso gut konnte ich auf mich zukommen lassen, was immer er plante. Vermutlich gar nichts. Ich sollte einfach abschalten und genießen. Ich folgte ihm nach draußen. Und… wow! Der Garten war eine Wucht. Ich fühlte mich, als wäre ich im Urlaub. Irgendwo in der Toskana. Das Wetter spielte da zwar nicht unbedingt mit – wir hatten kaum 20 Grad – aber das war mir im Moment einerlei. „Setzen Sie sich. Hier, damit sie nicht frieren.“ Beeindruckend. Also nicht seine Fürsorge – gut, die auch – aber wie er die Decke herbeigezaubert hatte. Von jetzt auf gleich war sie in seiner Hand gewesen. „Danke.“ Wenigstens stotterte ich nicht. Gedanklich klopfte ich mir dafür auf die Schulter. „Gut. Also, Briony, reden wir. Beziehungsweise, fungieren Sie als Vermittler zwischen Ihrem Roman und mir.“ „Er ist nicht mein Roman. Ich bin nur zufällig die Einzige, die ihn hören kann. Schon seltsam, finden Sie nicht?“ „Ich habe schon sehr viel seltsamere Dinge gesehen.“ Ich glaubte ihm sofort. „Roman?“ Zur Stelle. Ich verdrehte die Augen. „Wäre nett, wenn du normal mit mir sprichst, statt in meinem Kopf. Nicht, dass ich was durcheinanderbringe.“ Dass ich meine Gedanken aussprach anstatt seinen. Das wäre… im besten Fall unhöflich; im schlimmsten peinlich. Für einen winzigen Moment glaubte ich, dass Stépan mich verwundert anschaute. Für eine Millisekunde. Oder ich hatte es mir schlichtweg eingebildet. Die nächste Stunde wiederholte ich das, was Roman mir sagte. Ich hakte nicht dazwischen, sondern spielte die brave Souffleuse. Obwohl… ich sprach in normaler Lautstärke und flüsterte nicht. Aber einen anderen Ausdruck fand ich für meine gegenwärtige Funktion nicht. Schließlich schien Stépan mit dem Gespräch zufrieden zu sein. Für mich war es jedenfalls sehr aufschlussreich gewesen. Was es in der Zukunft alles gab, erschien mir größtenteils utopisch. Dämonen, Werwesen, Hexen, genetisch weiterentwickelte Menschen, Vampire. Tja, Fakt war: Die gab es auch jetzt schon. Nur wusste kein Mensch davon. Außer mir und vielleicht noch einer Hand voll Eingeweihter. „Möchten Sie jetzt noch einen Wein, Briony?“ „Vielen Dank, Stépan, aber nein. Ich bin mir schon jetzt im Unklaren, ob es besser wäre, lieber ein Taxi zu bestellen.“ „Warum?“ „Wenn Sie mich teleportieren… das ist für mich nicht sonderlich magenfreundlich.“ Er lachte leise. „Entschuldigen Sie. Ich wollte mich nicht über Sie lustig machen. Ich vergesse nur hin und wieder, dass Sie als Mensch anders funktionieren. Ein wenig. Machen Sie sich keine Gedanken darüber. Ich werde dafür sorgen, dass es Ihnen im Anschluss gut geht.“ Wirklich? Wollte er ein Stoppschild für meinen Magen aufstellen? „Ich nehme Sie beim Wort, Stépan.“ Er zwinkerte mir zu. „Also keinen Wein mehr? Möchten Sie heim?“ Ich nickte. „Immerhin ist meine Mutti zu Besuch.“ „Stimmt.“ Er stand auf und reichte mir die Hand. „Bereit?“ „Bereit, wenn Sie es sind.“
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