Roman brüllte einige derbe Flüche in die heiße, dunkle Sommernacht. Außer Briony, die seelenruhig in der fünften Etage schlief, konnte ihn sowieso niemand hören. Gelinde ausgedrückt fand er das zum Kotzen! Doch es hielt ihn nicht davon ab, dem Typ zu folgen. Ein paar Informationen konnten nicht schaden. Solange Briony schlief, konnte er sowieso nichts anderes unternehmen.
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Verschlafen streckte ich mich und blinzelte in die heißen, grellen Sonnenstrahlen, die mir mitten ins Gesicht schienen. Obwohl ich ein Morgenmensch war, wünschte ich mir, dass die Sonne zur Abwechslung auf der anderen Seite meiner Wohnung aufginge. Ein recht frommer Wunsch, wenn ich bedachte, dass ich gestern Abend Stimmen gehört hatte.
Über mich selbst lachend, schlug ich die Bettdecke zurück, setzte mich ruckartig auf, gähnte herzhaft, rieb mir den Schlaf aus den Augen, stand auf, öffnete das Fenster und tappte in meine Küche. Dort setzte ich mir einen Kaffee an, bevor ich ins Bad flitzte. Da dieses kein Fenster besaß, war es deprimierend dunkel, selbst mit eingeschaltetem Licht, aber auch angenehm kühl. Ich wusch mich, putzte meine Zähne, kämmte meine langen Haare, die für heiße Sommer nicht unbedingt geeignet waren, zwirbelte sie zu einem Knoten auf und steckte sie fest, bevor ich wieder in die Schlafstube trabte. Schnell tauschte ich mein Satinnachthemd gegen Slip und Shirt, schloss das Fenster und zog die Jalousien herunter, damit die Wärme draußen blieb. Zurück in der Küche goss ich mir meinen Kaffee in die Tasse, gab Milch und Zucker hinzu, schaute auf die Uhr und kramte in einer Schublade nach einer Zigarette und Feuerzeug.
Mit diesen drei Dingen ausgerüstet, schlurfte ich in die Wohnstube und von dieser auf meinen Balkon, auf dem ich mein morgendliches Ritual genoss. Halb sieben morgens war die Welt noch in Ordnung. Jedenfalls solange ich keine Stimme hörte.
Sobald ich diese jedoch vernahm, erschrak ich derart heftig, dass mein Kaffee fluchtartig, in hohem Bogen meine Tasse verließ und sich über den Balkon ergoss. Meine gute Laune war hinüber, meine Zigarette hatte sich im Schwall des Kaffees ertränkt und mein Herz stampfte wie ein wild gewordenes Mammut. Diverse Verwünschungen vor mich hinmurmelnd stakste ich in die Küche, besorgte mir einen Hader und ging zurück auf den Balkon, um die Sauerei zu beseitigen.
Hätte die lachende Stimme einen Körper, hätte ich diesem schon längst den Hals umgedreht. Ganz bestimmt war er zu Lebzeiten ein widerlicher, kleiner Gnom gewesen, der die besten Jahre bereits hinter sich hatte und nur noch mit seiner Stimme verzaubern konnte. Ich musste allerdings zugeben, dass mir diese Stimme angenehmer war, als wenn die an irgendetwas Widerliches erinnerte.
Das gäbe mir vermutlich den Rest.
Zornig schleuderte ich den Hader ins Bad – ohne ihn auszuspülen – wusch meine Hände, füllte die Tasse neu auf und kramte nach einer weiteren Zigarette, ehe ich mich wieder auf den Balkon begab. Allerdings nicht ohne die Anweisung an den Geist, wenigstens noch zehn Minuten die Klappe zu halten. „Wie du wünschst.“ Ha, wie ich wünschte, hm? Er durfte sich gern in seine Geisterwelt zurückziehen oder woanders spuken.
Immerhin blieb er ruhig. Schön und gut.
Meine gute Laune kam nicht zurück. Der Kaffee schmeckte nicht und die Zigarette ebenso wenig. Wunderbar! Er hatte mir meinen ruhigen Morgen gründlich vermasselt. Das machte mich nicht nur sauer, sondern fuchsteufelswild. Mit viel Wut im Bauch verließ ich den Balkon, trabte in die Küche, bediente den Toaster, stellte krachend die Marmelade auf den Tisch, ebenso den Teller und das Messer. Meine Tasse setzte ich sanfter auf. Schließlich nahm ich den gebräunten Toast und legte ihn auf den Teller, bevor ich mich setzte und zu frühstücken begann. „Nun, zumindest bist du kein movere .“ Haha, jetzt kam die Stimme auch noch mit Latein! Tja, aber das Wort kannte ich zufällig. Allerdings war die Übersetzung seltsam, so dass ich an mir zweifelte. Zumindest bist du kein ‚bewegt’? Was sollte das bitteschön bedeuten? Der Appetit war mir gründlich vergangen. Also legte ich den angebissenen Toast zurück auf den Teller, verschränkte die Arme und lehnte mich im Stuhl zurück. „Gut, was genau willst du und wie werde ich dich los?“ Die Stimme lachte leise, antwortete mir aber nach einer Weile, die sich für meine schon wieder strapazierten Nerven arg in die Länge gedehnt hatte. „Was ich dir jetzt sage, wird dir wie ein verrücktes Anliegen vorkommen.“ Nein, wirklich? Ich sprach mit einem Geist! Wie verrückter konnte es schon werden?
„Ich komme aus der Zukunft.“ Meine Mundwinkel zuckten, während ich heimlich nach meinem Puls tastete. Vielleicht war ich gestern auf Arbeit ins Koma gefallen und träumte Blödsinn? „Ich bin… war … ein Freund deiner Ururgroßnichte Samantha und bin hier, um dich und sie zu retten.“ Aha. Das war natürlich vollkommen logisch. Dass ich da nicht schon eher drauf gekommen war!
„Ich weiß, das klingt für dich utopisch. Um ehrlich zu sein, war ich nicht darauf vorbereitet, dass ich lediglich mit meinem Verstand in die Vergangenheit reise.“ Einem ziemlich verdrehten Verstand für einen Geist, der gefälligst tot zu sein hatte. „Ich bin nicht tot. Ich existiere in dieser Zeit nur noch nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum ich in diesem Jahrhundert körperlos bin.“ Oh man, las der meine Gedanken? „Nein, sie sind lediglich so laut, dass ich sie nicht ignorieren kann. Hör mir bitte zu!“ Pffft, als ob ich tun müsste, was dieser aufdringliche Geist von mir wollte. „Was ich dir jetzt sage, hat noch nicht stattgefunden. Es wäre gesünder, es für dich zu behalten, wenn du nicht möchtest, dass man dich in die Psychiatrie steckt.“ Ich überlegte krampfhaft, ob ich nicht schon dahin gehörte. „Tust du nicht und jetzt hör auf, alles von dem, was ich dir sage anzuzweifeln und höre einfach zu.“ Jawohl, oh du großer Meister der Geister. Ein kurzes Schnauben der Stimme, dann begann sie zu erzählen. „Dein Bruder Benjamin wurde 1969 geboren, du 1978. Nächstes Jahr wird dein Bruder eine Tochter bekommen, Carolyn Simone. Es scheint eine alte Familientradition deiner Familie zu sein, den Kindern als zweiten Vornamen entweder den der Mutter oder den des Vaters zu geben, abhängig vom Geschlecht. In vier Jahren wird er wegziehen. Knapp 150 Kilometer nördlich von hier wird er eine Arbeit annehmen und seine kleine Familie mitnehmen. Nun, aus diesem Zweig deiner Familie geht im Jahre 2086 deine Ururgroßnichte Samantha hervor. Aufgrund verschiedener Umstände, die ich nicht aufhalten kann, ohne die Geschichte völlig durcheinanderzubringen, wird sie mit gerade mal 39 Jahren sterben. Ich versuche, das zu verhindern, weil ihr Verlust Dinge nach sich zieht, die… beunruhigend sind. Der zweite Grund, wieso ich hier bin, bist du, Briony. Du wirst in diesem Jahr, am 20. August, spurlos verschwinden. Samantha hat mich zu ihren Lebzeiten darum gebeten, herauszufinden, was dir passiert ist. Und ich halte meine Versprechen, auch wenn Sam die Lösung des Rätsels möglicherweise niemals erfahren wird. Deswegen brauche ich deine Hilfe. Denn du scheinst die Einzige zu sein, die mich hören kann.“ Hm, was für ein seltsamer Zufall, nicht wahr? Dachte dieser Geist ernsthaft, ich würde ihm diesen Blödsinn abkaufen? Außerdem: Mein Bruder würde nie wegziehen. Hier hatte er seine Familie, seine Freunde.
„Es gibt da noch einiges mehr, was ich dir sagen muss, wobei ich glaube, es wäre besser, wenn du es mit eigenen Augen siehst.“ Ok, das machte mich neugierig. „Ich höre zu, also rede.“ Die Stimme brummte leise, fuhr aber fort. „Im Jahr 2051 wird es zu einer Revolution kommen. Die Regierung mitsamt dem Militär schafft ein zweites Salem, um genetisch veränderte Menschen zu vernichten. Einen Großteil radieren sie tatsächlich aus, weil sie diese Menschen für Monster halten. Doch womit sie nicht rechnen, ist, dass damit die – für sie – wahren Monster auf der Oberfläche erscheinen. Es kommt zur totalen Unterdrückung der Menschheit, bis es zehn Jahre später zu einer zweiten Revolution kommt. Die wahren Monster sind nicht die genetisch veränderten Menschen, die durch Evolution entstehen, sondern die Wesen, die von Anbeginn der Zeit auf diesem Planeten existierten. Von den Menschen unbemerkt und dennoch real.“ Sowas wie Geister? Mir wurde leicht schwummrig. „Nein, nicht nur Geister, Briony. Die sind meistens harmlos. Ich spreche von Vampiren, Dämonen, Werwesen, um nur ein paar zu nennen.“ Jepp, der Geist war völlig durchgeknallt. Die Frage lautete nicht, wie ich einen Geist loswurde, sondern einen wahnsinnigen Geist. Indem ich mitspielte und mich zum Deppen machte? „Hm. Also wohnt Dracula möglicherweise in meiner Nachbarschaft und wenn ich nicht aufpasse, beißt er mich, so dass ich ebenfalls zum Blutsauger mutiere? Oder hetzt er mir Waldo, seinen Werwolf, auf den Hals?“ Ich versuchte, möglichst ernst zu bleiben, obwohl das Lachen unaufhaltsam in meiner Kehle vibrierte. „Du glaubst mir nicht. Dachte ich mir schon. Aber du wirst mir glauben, sobald du es mit eigenen Augen siehst.“ Vehement schüttelte ich den Kopf. „Kommt gar nicht in die Tüte. Ich bin zu jung für die Klapsmühle. Ganz ehrlich. Von mir aus verfolge mich, bis ich 80 bin. Auf einen Stalker mehr oder weniger kommt es eh nicht an.“
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