Aggressiv fuhr ich ohne Ziel drauflos. Nach einer ganzen Weile bog ich in einen Waldweg ein, stieg aus und lief leise vor mich hinredend auf und ab.
Oh Gott, warum nur? Was hab ich denn verbrochen, dass ich so gestraft werde? Ich wollte doch nie jemandem schaden oder ihn übervorteilen. Habe immer versucht, es allen recht zu machen. Oft habe ich zu meinem eigenen Nachteil anderen nachgegeben. Ich stockte kurz und holte tief Luft.
Na ja, meistens war es ja nicht ganz unberechnend, denn im Nachhinein hat sich oft ein Vorteil für mich daraus ergeben. Aber muss ich deswegen so gestraft werden? Ich habe doch deswegen niemandem Schaden zugefügt! Warum habe ich nur diesmal nicht nachgegeben? Warum habe ich dieses blöde Geschäft nicht einfach sausen lassen? Es lief doch auch so hervorragend in der Firma. Sie muss es geahnt haben, muss gewusst haben, was geschehen würde. Sie war immer besser in der Einschätzung solcher Dinge.
Die Verzweiflung überrollte mich, ich legte die Arme aufs Autodach, vergrub meinen Kopf in den Armbeugen und begann hemmungslos zu schluchzen.
Bilder stiegen in mir auf.
Wie schön war es immer gewesen, wenn Maria mit ihren großen Kinderaugen flehend zu mir aufgeschaut hatte, um etwas zu erreichen, und wie schwer war es mir oft gefallen, ihr nicht jede Bitte zu erfüllen. Ich habe immer gedacht: Das darfst du nicht, später bekommt sie auch nicht jeden Wunsch erfüllt und dann kann sie nicht damit umgehen. Hätte ich ihr doch jeden Wunsch erfüllt! Ach, könnte ich doch die Zeit zurückdrehen! Die schönen Stunden mit Gabi noch einmal erleben. Wie schön war es gewesen, als unsere Liebe noch jung war. Wir hatten uns nichts daraus gemacht, immer und überall zu zeigen, wie sehr wir uns liebten. Auch wenn andere manchmal verunsichert wegschauten, wenn wir uns im Beisein Dritter küssten oder umarmten, es war ja nichts dabei, wenn wir jedem zeigten, dass wir zusammengehörten. Aber später kam dann die Routine ins tägliche Leben, und im Kampf mit den anfallenden Aufgaben haben wir uns vernachlässigt. Unsere Liebe vernachlässigt. Oder war nur ich das? Aber wie sollte ich sonst mein Tagespensum bewältigen? Nur durch die harte Arbeit und die Routine im täglichen Leben konnte ich das aufbauen, was ich bis jetzt geschaffen hatte. Ich wollte doch nur eine gewisse Sicherheit haben! Sicherheit und noch ein Stück Sicherheit und noch ein Stück! Und, was nützt sie mir jetzt, diese Sicherheit? Es ist niemand mehr da, dem sie nützen könnte. Auch Torsten nicht! Oh, wie stolz war ich auf meinen Sohn gewesen! Der Glanz in seinen Augen, bei gemeinsamen Unternehmungen, war die schönste Belohnung. Wann hatte ich denn eigentlich das letzte Mal richtig Zeit für ihn gehabt? Wie oft hab ich mit Gabi über das alles diskutiert und mir vorgenommen, etwas zu ändern. Aber dann. Eine Weile hat es meist angehalten, bis, ja bis mich die tägliche Routine wieder im Griff hatte. Und jetzt, jetzt ist es zu spät. Hätte ich doch nur damals in die Zukunft schauen können. Was hätte ich nicht alles anders gemacht! Wieder schossen mir Tränen in die Augen.
Ja, was, was hätte ich denn anders gemacht? Hätte ich wirklich mein Leben geändert? Wäre ich in der Lage gewesen, mich anders zu verhalten? Meinem Wesen, meinen Wünschen und Träumen entgegen anders zu leben? Mich anderen unterzuordnen und so zu leben, wie diese sich das wünschten? Oder wäre ich daran zerbrochen? Hätte ich vielleicht nur den Weg des geringsten Widerstandes gesucht und nur bestimmte Dinge vermieden? Oh, warum ist das Leben nur so kompliziert?
Ich begann wieder hin und her zu laufen und kam mit diesen Gedanken nicht zur Ruhe. Nach einer Weile lief ich einfach den Waldweg entlang, bis er an einem Wiesenhang die Richtung wechselte. Er führte dann am Waldrand entlang, bis er in einem großen Bogen ins Tal hinunter schwenkte. Wenn man dem Weg mit den Augen weiterfolgte, konnte man am Ende des Tales, bevor es durch einen Bogen nicht mehr einsehbar war, die ersten Häuser eines kleinen Dorfes sehen. Irgendjemand hatte am Waldrand, zwischen zwei Bäumen, eine kleine Bank gebaut. Dort setzte ich mich nieder und schaute den wild dahintreibenden Wolken nach. Der stürmische Wind beugte die Baumwipfel und immer wieder hörte man das Knacken von kleineren Ästen, die zu Boden fielen. Ich war noch nie an diesem Ort gewesen. Da ich aufs Geradewohl losgefahren war, wusste ich nicht einmal genau, wo ich mich befand. Wäre ich zu einem anderen Zeitpunkt hierhergekommen, hätte ich mich an der Schönheit der Landschaft gefreut und dem Treiben der Natur zugeschaut. Doch so nahm ich das alles nur nebenbei wahr und meine Gedanken jagten genauso wild dahin, wie die Wolken im stürmischen Wind.
Was hab ich nun noch vom Leben? Mein Halt, die Wärme, die Zuflucht in meinem Leben sind nicht mehr da. Das einsame, stille, für mich allein viel zu große Haus erdrückt mich fast. Jeder Ort, jeder Gegenstand in diesem Haus erinnert mich an meine Familie. Was will ich allein mit all den Dingen, die ich um mich herum angehäuft habe? Es macht keine Freude, wenn man sie nicht mit jemandem teilen kann. Oh Gott, was soll nur werden?
Ich vergrub den Kopf in den Händen und schloss die Augen.
Wie soll es jetzt weitergehen mit mir? Ich weiß ja nicht einmal, wie ich das Problem in der Firma lösen soll. Wenn ich diesem Igor jetzt nachgebe, verrate ich alles und alle, die mir jemals lieb waren. Gebe ich ihm nicht nach, bringe ich auch noch andere, von mir und der Firma mal abgesehen, in Gefahr. Vielleicht wäre es ja gar nicht mal schlecht, wenn ich mit dran glauben müsste. Dann wären all meine Probleme ein für alle Mal gelöst. Ich müsste mir keine Gedanken mehr machen, wie es weitergeht und wäre alle Sorgen los. Ja, das ist es. Ich leg mich weiter mit diesem Gangster an.
Mein Gesicht hellte sich auf und ich wollte aufspringen, doch fast im selben Moment sackte ich wieder in mich zusammen.
Ich bin bloß der Letzte, dem es an den Kragen geht. Er will ja was von mir. Also wird er erst alle anderen Möglichkeiten ausschöpfen. Wieder nichts! Wieder kein Weg! Wie komm ich nur da raus? Man müsste einfach ausreißen können. Einfach weg. Sich einfach davonstehlen. Es merkt ja doch keiner mehr, wenn ich nicht mehr da bin. Aber wo soll ich denn hin? Was soll ich denn dann tun mit meinem Leben? Außer … außer ich setz meinem Leben selbst ein Ende.
Ich erschauderte bei dem Gedanken und doch ließ er mich nicht mehr los. Nachdenklich aber schon ruhiger stand ich auf und lief den Waldweg zurück. Der Selbstmordgedanke hatte sich richtig in mir festgefressen. Ich überlegte nur noch, ob ich vorher noch etwas klären müsste. Doch schließlich kam ich zu dem Schluss, dass es mir doch dann egal sein könnte, was weiter werden würde. Der Gedanke an Gott kam kurz in mir auf, doch ich hatte den Glauben in den letzten Jahren sehr vernachlässigt, sodass der Selbstmordgedanke schnell wieder die Oberhand gewann. Zielsicher ging ich aufs Auto zu, suchte den Schlüssel in meinen Taschen und musste dann feststellen, dass er noch im Zündschloss steckte. Das war mir auch noch nicht passiert. Sonst hatte ich meist noch ein, zwei Mal kontrolliert, ob das Auto auch richtig zugeschlossen war und jetzt, da steckte der Schlüssel, da lagen alle Papiere auf dem Beifahrersitz. Selbst die Brieftasche hatte ich dort liegengelassen.
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