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Benita Jochim
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Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Erstauflage 2017
Lektorat: Melanie Wittmann
Cover: Gestaltet unter Verwendung von Bildern von © Maria Moroz
und © Doreen Salcher - Adobe Stock lizenziert
Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM
www.literaturredaktion.de
ISBN: 978-3-86196-699-9 - Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-213-5 - E-Book
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Inhalt
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Das Leben ist wie eine Reise.
Glück finden wir auf dem Weg
und nicht am Ziel.
Monika Minder
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Was man tief in seinem Herzen besitzt,
kann man nicht durch den Tod verlieren.
(Goethe)
Ich saß auf dem Sofa, welches in einem kleinen Raum stand. Die Tapete war nicht mehr die neuste und auch das Sofa hatte seine besten Tage hinter sich. Überall spürte man die Federn, die sich langsam einen Weg aus dem Stoff heraus bahnten, und auch die Tapete, die ein barockartiges Muster aufwies, hing hier und dort in langen Streifen von der Wand. Dahinter war grauer, kahler Putz. Obwohl das Zimmer alt war und die Möbel, die darin standen, so wackelig waren, dass man Angst hatte, sie würden schon beim kleinsten Windstoß zusammenbrechen, liebte ich den Raum. Er erweckte Kindheitserinnerungen in mir.
Meine Hände lagen auf meinem Schoß und ich schaute auf den zerschlissenen Teppich, der vor mir lag. Die Naht war aufgeplatzt und die Farbe verblasste an einigen Stellen, was darauf hinwies, dass er oft benutzt und gewaschen worden war. Ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich mir vorstellte, wie es an Weihnachten immer nach Zimt und Spekulatius gerochen hatte.
Ich erhob mich vom Sofa und lief zu dem eingestaubten Regal hinüber, in welchem meine Lieblingsbücher standen. Meine Augen füllten sich mit Tränen. So viele Erinnerungen lagen in diesem Raum. So viele Erinnerungen hatte dieses Haus geprägt. Ich fuhr mit meinem Finger über die einzelnen Bände. Die Bücher hatte er mir immer vorgelesen. Er war mein Retter in der Not gewesen, derjenige, der sich die ganze Nacht zu mir gelegt hatte, wenn ich von Albträumen gequält worden war. Er war zu Hause geblieben, wenn es mir schlecht ging, und er war derjenige gewesen, der mit mir die Zukunft geplant hatte.
Doch jetzt war ich allein.
Ich hörte Schritte und merkte, dass jemand den Raum betreten hatte. Ich blickte auf und drehte mich um. „Ich kann das nicht“, flüsterte ich.
Der Mann im Türrahmen trat näher und schloss mich in seine Arme. „Ich weiß, es ist schwer, aber er hätte sich gewünscht, dass du den Halt nicht verlierst und mit dem weitermachst, was ihr begonnen habt“, antwortete er.
„Ohne ihn ist es aber anders“, widersprach ich. „Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt will.“
Er schaute mir in die Augen und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. „Lass dir Zeit“, waren seine letzten Worte, bevor er sich umdrehte und aus dem Wohnzimmer verschwand.
Ich schaute in den kleinen Spiegel, der über dem Schreibtisch hing. Ein tieftrauriges Gesicht starrte mir entgegen. Meine Haut war blass und meine blaugrünen Augen musterten mich leer und trostlos. Mein kastanienbraunes Haar war zu einem Dutt hochgesteckt. Eine einzelne lockige Strähne widersetzte sich und baumelte hinter meinem Ohr. Ich trug ein schwarzes Kleid, denn ich würde in ein paar Minuten den Schritt in ein neues Leben machen. Ein Leben ohne ihn. Ein Leben ohne meinen Bruder Ezra.
*
Das Leben ist eine Reise.
Glück findet man auf dem Weg und nicht am Ziel.
(Monika Minder)
365 Tage zuvor ...
Es war Mai. Der Himmel war bedeckt von grauen Wolken, die tief über den Dächern der Londoner Innenstadt ihre Bahnen zogen und kein Stückchen blauen Himmel preisgaben. Die Straßen waren noch nass vom Regen der vergangenen Nacht und auch heute sah es so aus, als würde es wieder zu nieseln beginnen. Seit zwei Wochen ununterbrochen Regen.
Ich saß gerade am Esszimmertisch beim Frühstück, das aus einem Apfel und einem Orangensaft bestand, als mein Handy vibrierte. Ich schaute auf das Display, nahm es vom Tisch und drückte auf die grüne Taste.
„Guten Morgen, Bruderherz“, flötete ich ins Telefon.
„Morgen, Prinzessin“, ertönte es am anderen Ende der Leitung. „Du denkst bitte an unser Training heute Mittag“, erinnerte er mich.
Ich verdrehte die Augen. „Ezra, du erinnerst mich nun schon seit drei Tagen ständig daran. Ich werde es nicht vergessen.“
Ich hörte ein Seufzen. „Tut mir leid, aber das Training ist wichtig.“
Diesmal war ich diejenige, die aufstöhnte. „Du musst mir nicht sagen, dass das Training von Bedeutung ist. Schau du lieber, dass du diesmal pünktlich kommst“, neckte ich ihn.
„Ja, ja, schon klar“, gab er sich geschlagen. „Ich meine es doch nur gut.“
„Das versteh ich. Ich hab es mir schon groß im Kalender eingetragen und auch in mein Handy hab ich es eingespeichert. Also ist es nicht länger nötig, mich ständig daran zu erinnern“, erklärte ich ihm. Obwohl Ezra nur zwei Jahre älter als ich war, bedauerte ich es manchmal, seine kleine Schwester zu sein.
„Na gut, dann lass ich dich jetzt in Ruhe. Bis später und pass auf dich auf, Prinzessin“, verabschiedete er sich schließlich von mir.
„Mach ich. Du auch auf dich. Bis später und richte Mum und Dad schöne Grüße von mir aus.“
„Jap, das werde ich. Hab dich lieb.“ Nach diesen Worten war nur noch ein Tuten in der Leitung zu hören.
Ich legte das Handy beiseite und setzte mein Frühstück fort.
Die restliche Zeit, die mir nach dem Essen noch blieb, verbrachte ich damit, meine Wohnung ein bisschen aufzuräumen. Ich saugte im Wohnzimmer und wischte die Küche. In meinem Zimmer räumte ich die herumliegenden Bücher fein säuberlich ins Regal zurück und fing endlich mal an, die dreckige Wäsche zu waschen und sie danach zum Trocknen auf den Balkon zu hängen.
Ich mochte meine kleine Wohnung, die verborgen und unscheinbar in Westminster ihren Platz hatte. Mein Zimmer gefiel mir am besten. Die Möbel, die darin standen, waren schon sehr alt. Das Holz meines Schreibtisches war dunkel und glatt. Mein Bett knarzte immer, wenn sich jemand darauf niederließ. Bei meinem Schrank fehlte bereits eine Tür, woran ich nicht ganz unschuldig war, außerdem besaß ich eine kleine Kommode, die aus Buchen- oder Eichenholz bestand. So genau wusste ich es nie. Mein Vater erklärte mir zwar immer den Unterschied zwischen den einzelnen Hölzern, doch ich konnte ihn mir nicht merken. Die Tapete hatte eine fliederartige Farbe. Sie war über und über mit Zeichnungen bedeckt, was daran lag, dass mein Bruder hervorragend malen konnte und die Wand jedes Mal mit einem neuen Gemälde verzierte, wenn er bei mir zu Besuch war. Leider reichte der Platz mittlerweile nicht mehr und so musste nun auch die Tapete im Wohnzimmer herhalten.
Ich schaute auf die Uhr, die an der Wand über meiner Kommode hing, und stellte fest, dass ich mich langsam umziehen sollte. Ich entschied mich für ein eng anliegendes gelbes Top und eine graue Jogginghose. Danach schnappte ich mir meinen Mantel und mein Handy und stapfte zur Tür hinaus. Meinen Wohnungsschlüssel hatte ich nebenbei in meine Manteltasche gleiten lassen. Nun schloss ich meine Tür ab und folgte den Stufen, die zum Ausgang des Apartmenthauses führten. Dass meine Wohnung im vierten Stock lag, störte mich nicht im Geringsten.
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