Da ich mich nun wieder besser fühlte, ging ich zurück zum Tempel und kam gerade zu der Zeit dort an, als die Mönche ihre Andacht beendeten. Wang Lee schien mich schon gesucht zu haben, denn sein Gesicht hellte sich auf, als er mich kommen sah. Freundlich winkte er mich zu sich heran und erkundigte sich, mit vielen Gesten und Umschreibungen, wo ich gewesen sei. Ich schilderte ihm mein Problem und versuchte ihm begreiflich zu machen, dass ich beim nächsten Mal gerne die Toilette aufsuchen würde. Nach einer Weile hatte er mich verstanden und führte mich wieder in den Wald außerhalb des Klosters. Nach einer kurzen Strecke sagte mir schon der Geruch, dass wir uns der gesuchten Stelle näherten. Als wir dann zu der Stelle kamen, überlegte ich mir doch, ob ich es nicht auf meine Weise weiter praktizieren sollte. Wir hatten eine längliche Grube erreicht, in die anscheinend alle Klosterbewohner ihre Notdurft verrichteten. Am Rand der Grube war ein Querholz zum Festhalten angebracht und Schwärme von Fliegen und anderen Insekten sorgten mit Sicherheit dafür, dass man sich beeilte. Wie ich später erfuhr, wurde von Zeit zu Zeit die bestehende Grube zugeschüttet und eine neue angelegt. Der Gedanke diesen Ort zu nutzen widerstrebte mir, doch wie hatte ein Offizier während meiner Wehrdienstzeit einmal zu mir gesagt: ›Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und du wirst staunen, an was man sich alles gewöhnen kann!‹
Nach dieser Exkursion fuhren wir mit unserem Krafttraining fort, aber wir merkten immer mehr, dass es mit meiner Ausdauer und meinem Lungenvolumen nicht sehr gut aussah.
Außerdem begann ich auch noch darüber nachzugrübeln, warum ich mir das überhaupt antat und schlagartig ließ meine Leistung noch mehr nach. Wang Lee versuchte, mich wieder zu motivieren, doch so recht gelang ihm das nicht und schließlich wusste er sich nicht mehr anders zu helfen und ging mit mir zum Abt.
Nachdem wir ihn in einem kleinen Seitenraum des Haupttempels, wo er damit beschäftigt war eine Schriftrolle mit seltsamen chinesischen Schriftzeichen zu beschreiben, gefunden hatten, schilderte Wang Lee ihm das Problem. Der Abt nickte und schaute mich an, als ob er nichts anderes erwartet hätte. Dann winkte er mich zu sich heran, forderte mich zum Setzen auf und nahm meine Hände in die seinen. Sofort spürte ich wieder diese unheimliche Energie, die von ihm ausging. Nachdem ich dann dem Drang nachgegeben hatte, meine Augen zu schließen und mich nicht mehr dagegen sperrte, dass der Abt auf diese Weise mit mir kommunizierte, hatte ich das Gefühl, dass wir trotz unserer unterschiedlichen Sprachen miteinander reden könnten.
Zu dieser Zeit konnte ich noch nicht sagen wie das funktionierte, doch es funktionierte genauso gut, oder vielleicht sogar besser, als wenn wir miteinander gesprochen hätten. Nachdem ich die Augen wieder geöffnet und in das lächelnde Gesicht des Abtes geschaut hatte, war ich bereit, alles von ihnen zu lernen, was sie mir beibringen konnten.
So begann meine Lehrzeit im Kloster und die folgenden Tage und Wochen hatten fast immer den gleichen Ablauf. Im Morgengrauen, gleich nach dem Aufstehen, ging ich mit Wang Lee zum Abt und führte dort mit ihm die morgendlichen Übungen durch. Ich nannte das für mich Tai Chi, obwohl es doch einige Unterschiede gab. Auch hatte ich es mir zur Angewohnheit gemacht, gleich danach, während die Mönche ihre Morgenandacht hielten, etwas zu joggen, um meine Ausdauer und Beinmuskulatur zu stärken. Am ersten Tag kam ich nicht weit. Nach drei bis vierhundert Metern verließ mich die Kraft. Doch nachdem ich diesen Stand zwei Tage gehalten hatte, lief ich am dritten Tag einige Meter weiter und als ich dachte, es ginge nicht mehr setzte ich noch ein Stück hinzu. Das führte ich so fort bis ich es geschafft hatte, fünf bis sechs Kilometer am Stück zu laufen. Das war das Pensum, das ich mir selbst auferlegte und bis auf wenige Ausnahmen täglich absolvierte. Nur die Geschwindigkeit oder die Strecke änderte ich ab und zu.
Nach dem Joggen ging ich immer zu dem Wasserbecken, an dem ich meine erste Morgentoilette gemacht hatte. Bald fiel es mir auch nicht mehr schwer, in dem kalten Wasser unterzutauchen und ein wenig zu schwimmen. Diese Körperreinigung, die ich oft auch abends durchführte, tat mir sehr gut, wurde aber von den Mönchen, die das nicht kannten, leise belächelt.
Fast immer schaffte ich es, kurz vor oder am Ende der Morgenandacht, ins Kloster zurückzukommen, um dann mit Wang Lee weiter zu trainieren. Die wenigen Male, die ich später kam, fand ich ihn dann immer schon auf dem großen Platz vor den Unterkünften. Ich baute mir auch bald einige Hilfsmittel, fürs Krafttraining. Sie hatten zwar keinerlei Ähnlichkeit mit den Geräten, die in modernen Fitnessstudios genutzt werden, aber ähnliche Funktionen. Wang Lee und einige andere Mönche nutzten sie gerne mit, denn sie erleichterten einiges.
Die ungewohnte körperliche Betätigung ging nicht spurlos an mir vorüber. Nach den ersten Tagen tat mir jede Körperstelle weh und wenn ich morgens aufstand, musste ich mich zu jeder Bewegung zwingen, da mich schon beim Aufrichten der Muskelkater im Bauch schmerzte. Die ersten Schritte stakste ich steif wie ein Storch durchs Gelände und Wang Lee hatte oft Grund zum Lachen. Erst bei den Tai Chi-Übungen wurden meine Bewegungen langsam wieder geschmeidig und ich merkte auch, dass der Abt manche Übungen bevorzugte, die die Muskeln wieder entkrampften. Es vergingen aber einige Wochen, bis sich mein Körper auf die neue, ungewohnte Betätigung eingestellt hatte.
Nach einiger Zeit vertrug ich auch das Essen besser. Mein Magen hatte sich langsam an die fremde Kost gewöhnt. Mit den Essstäbchen konnte ich auch immer besser umgehen und Wang Lees Chinesisch-Unterricht zeigte erste Früchte.
An der Mittagsandacht der Mönche nahm ich nach einiger Zeit gern und regelmäßig teil. Zum einen verschaffte es mir die Möglichkeit mich auszuruhen und Kraft für das Nachmittagstraining zu schöpfen und zum anderen war es eine gute Möglichkeit, um zur Ruhe zu kommen, zu meditieren und Geist und Körper zu vereinigen. Der Abt, mit dem ich oft in den Abendstunden beisammen saß, lehrte mich auch, dass nur ein gesunder und entspannter Geist zu außergewöhnlichen Leistungen fähig ist. Ich erkannte, dass die Meditation ein gutes Mittel ist, um den Körper dazu anzuspornen. Die Einstellung zum Körper und zum Leben trägt wesentlich zum Wohlbefinden bei. Wenn der Geist sagt, ich bin schön, gesund und stark, dann strahlt das der Körper, das Gesicht auch aus. Er vermittelte mir, dass es nicht darauf ankommt, stark zu sein und gut kämpfen zu können, sondern dass es wichtig ist, welche Einstellung ich zum Leben, zum Kämpfen, zur Gerechtigkeit habe. Er zeigte und bewies mir, dass es durchaus möglich ist, schwächer und dem anderen unterlegen zu sein und dennoch so viel Kraft und Überlegenheit auszustrahlen, dass der Gegner ohne Worte und Aktion eingeschüchtert wird und jede Konfrontation vermeidet.
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