Fragen über Fragen und ich fand keine Antworten. Das innere Gleichgewicht, das ich gerade gefunden hatte, begann wieder zu schwinden. Ich wurde immer nervöser und wollte mich schon erheben, um den Tempel zu verlassen, als ich fühlte, dass mich jemand beobachtete. Ich öffnete die Augen und sah nach vorn zu dem leicht erhöhten Teil, auf dem die Buddhafigur stand, und ich sah direkt in die Augen des Abtes. Dieser Blick hatte etwas, das ich nicht beschreiben konnte und ich spürte, wie sich die Ruhe des Abtes auf mich übertrug. Langsam glätteten sich die Wogen meiner aufgewühlten Gedanken und Gefühle und mir wurde bewusst, dass es eigentlich egal war warum, wie oder durch wen ich hierhergekommen war. Es zählte nur, dass ich jetzt hier war und das Beste daraus machte. Als ich diese Erkenntnis gewonnen hatte, sah ich hoch und wieder in die Augen des Abtes. Dabei dachte ich: Danke, du hast mir sehr geholfen!
Im selben Moment erschien ein Lächeln auf dem Gesicht des Abtes und ich glaubte, ein leichtes Kopfneigen zu bemerken. Während der restlichen Andacht der Mönche dachte ich über mein bisheriges Leben nach und kam dabei zu dem Ergebnis, dass dieses eigentlich sehr oberflächlich gewesen war. Das ständige Streben nach Besitz, Sicherheit und Anerkennung hatte mich vieles nicht mehr erkennen und verstehen lassen. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich von den Menschen an meiner Seite und um mich herum nur noch die Oberfläche wahrgenommen und in der Hast meines Lebens ihre Gedanken und Gefühle übersehen hatte.
Die erste Nacht in meiner neuen Unterkunft schlief ich sehr unruhig. Das laute Zirpen der Grillen, die vor der Lichtöffnung meiner Mönchszelle ihr Nachtkonzert gaben, trug sicherlich genauso dazu bei wie die fehlende Möglichkeit, sich richtig zu reinigen und der pelzige Belag, den ich auf meinen Zähnen spürte, war mir mehr als nur unangenehm. Als das schwache Licht des beginnenden Tages in den Raum fiel, mischte sich das undeutliche Geräusch der aufstehenden Mönche mit meinen wilden Träumen. Müde und unausgeschlafen versuchte ich noch beides zu trennen, als auch schon mein junger Freund Wang Lee in der Tür stand. Er bedeutete mir, dass ich ihm folgen sollte. So schnell ich in meinem schlaftrunkenen Zustand konnte, zog ich mich an und folgte ihm dann in Richtung Haupttempel.
Auf dem Platz vor dem Tempel wurde ich nun wieder mit etwas konfrontiert, das ich schon aus dem Fernsehen oder anderen modernen Medien kannte und dennoch nicht eindeutig zuordnen konnte. Der Abt und einige andere ältere Mönche führten dort Übungen aus, die mich sehr an Tai Chi erinnerten und dennoch anders wirkten, als ich sie in Erinnerung hatte. Die gleichmäßigen und synchron ausgeführten Bewegungen sahen wundervoll kraftvoll, elegant und beruhigend aus. Mir fiel auf, dass einige dieser Mönche schon recht alt zu sein schienen und dennoch wirkten ihre Bewegungen jung und elegant.
Ich hatte einige dieser Männer am Vortag in ihrer zeremoniellen Mönchstracht gesehen, doch nun hatten sie auch diese locker sitzende, leichte, graublaue Kleidung angelegt, die auch alle anderen Bewohner dieses Klosters zu tragen schienen. Aber obwohl sie sich äußerlich nun nicht mehr von den anderen unterschieden, strahlte diese Gruppe etwas aus, das man mehr fühlte, als man es sah. Eine Aura der Ruhe und Kraft umgab sie und jedes Gesicht spiegelte inneren Frieden wieder. Besonders der Abt zog meinen Blick magisch an. Die Leichtigkeit, mit der er diese schwungvollen Bewegungen ausführte, schien im krassen Gegensatz zu seinem Alter zu stehen. Eine unbändige Kraft ging von ihm aus und man kam nicht umhin, diesem Mann Respekt zu zollen.
Als wir die Gruppe dieser Männer erreicht hatten, unterbrach der Abt seine Übungen und ging mit uns einige Schritte zur Seite. Er bedeutete den anderen fortzufahren, und nachdem er einige Worte mit meinem jungen Begleiter gesprochen hatte, gab er mir mit Worten und Zeichen zu verstehen, dass ich das, was er mir vorführte nachahmen sollte. Ich versuchte es, doch bei mir sah das bei Weitem nicht so leicht und elegant aus. Meine Bewegungen waren ungleichmäßig und eckig, sie kosteten mich zu viel Kraft und Schweiß, denn ich verstand meinen Körper noch nicht und konnte meinen Geist nicht freimachen.
Auch meine Atmung war den Bewegungen nicht angepasst und so kam es, dass ich mich mehr anstrengte als nötig war, und durch diese ungewohnte Betätigung meine Kraft schnell nachließ. Nachdem Wang Lee bemerkte, dass ich nicht von allein meine Fehler erkannte und korrigierte, unterbrach er, ermuntert durch ein Kopfnicken des Abtes, seine Übungen und versuchte mir begreiflich zu machen, was ich falsch machte. Er führte, auf dem linken Bein stehend, mit den Armen und dem rechten Bein, eine Bewegung zum Körper hin aus und atmete dabei ein. Anschließend verharrte er einen Augenblick in der erreichten Position und atmete dann bei der Bewegung vom Körper weg wieder aus. Er führte mir noch einige dieser Bewegungsabläufe vor und nahm dabei seinen Sprachunterricht wieder auf. Es gelang ihm, beides gut zu kombinieren und er brachte mir in diesem Zusammenspiel mit sichtlicher Freude Worte wie einatmen, ausatmen, Arm, Faust, Bein und Fuß bei.
Auf dem Gesicht des Abtes erschien ein herzliches Lächeln und nachdem er Wang Lee kurz in die Augen geschaut hatte, wurden dessen Wangen rot vor Verlegenheit. Anscheinend war dies ein großes Lob für den jungen Mönch und ich wollte dem Abt zeigen, dass er ein guter Lehrer war und gab mir besonders viel Mühe, ruhig und gleichmäßig im Einklang mit meinen Bewegungen zu atmen.
Nach einiger Zeit, meine Arme und Beine wurden langsam schwer von der ungewohnten Betätigung, ertönte ein Gong. Der Abt brach seine Übungen ab, nickte mir und Wang Lee zu, und ging, gefolgt von den anderen Mönchen, in den Tempel. Wang Lee forderte mich auf ihnen zu folgen, doch ich gab ihm zu verstehen, dass ich mich nicht wohl fühlte, so verschwitzt und ungewaschen wie ich war, und dass ich mich erst einmal reinigen wollte. Für einen kurzen Augenblick glaubte ich Enttäuschung und Unverständnis in seinen Augen zu sehen, doch freundlich und geduldig beschrieb er mir mit Gesten, dass außerhalb des Klosters ein Wasserlauf vom Gebirge herabkam, den ich zum Waschen nutzen konnte und so war ich mir am Ende nicht mehr sicher, ob ich mich nicht getäuscht hatte.
Nachdem Wang Lee den anderen schnell in den Tempel gefolgt war, ging ich in Richtung Klostereingang. Gleich außerhalb der Mauern fiel mir ein Trampelpfad auf, der in der Richtung verlief, die mir mein neuer Freund angedeutet hatte. Nachdem ich diesem eine Weile gefolgt war, hörte ich das Plätschern des Wassers, das sich seinen Weg durch den Fels bahnte. Der Pfad endete am oberen Teil eines Wasserbeckens, das ungefähr zehn Meter breit und fünfzehn Meter lang war. Ein kleiner Steg führte dort ins Wasser und endete direkt am Zufluss des Beckens. Der zirka einen Meter breite Bach stürzte an dieser Stelle etwa eineinhalb Meter hinab ins Wasserbecken. Das Wasser war sauber und kälter, als ich es bei diesen Umgebungstemperaturen erwartet hatte. Bald sollte ich auch erfahren, dass an dem kleinen Wasserfall das Trinkwasser geholt und am Rande des Steges die Wäsche gewaschen wurde.
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