Der Mann, den er angesprochen hatte, das konnte Melia erst jetzt erkennen, hielt ein Gerät in der Hand, das aussah, wie ein rechteckiger, kleiner Kasten mit einer Taste obenauf. Sie brauchte sich nicht lang zu fragen, was dieses Ding war, denn sofort erinnerte sie sich an die Worte des Gruppenführers vom gestrigen Tag, als er ihnen von Sprengladungen entlang des Stollens erzählt hatte. Melia war sicher, dass der andere Mann den Auslöser in den Händen hielt.
Einen Augenblick später drückte er die Taste und Melia zuckte unwillkürlich zusammen, da sie mit extremem Explosionslärm rechnete.
Doch nichts geschah!
Der Mann am Gerät blickte verunsichert zum Gruppenführer und drückte die Taste gleich noch einmal. Plötzlich schoss ein kleiner, greller Blitz aus dem Kasten, der Mann schrie auf und während er ihn fallen ließ, zuckte ein weiterer Blitz aus dem Inneren, bevor dunkler Qualm hervortrat.
„Scheiße!“ rief der Gruppenführer und war sofort besorgt.
„Was machen wir jetzt?“ Der Mann starrte auf den Kasten und dann voller Panik auf den Gruppenführer.
„Jemand muss zurück und den Zünder am anderen Ende betätigen!“
Der Mann antwortete nicht. Er nickte nur und schaute dann verlegen zur Seite.
„Okay!“ Der Gruppenführer seufzte und nickte ebenfalls. „Dann übernehmen sie die Führung und bringen die Leute sicher in die Berge!“
Melia hörte die Worte des Gruppenführers. Er wollte sich für sie alle opfern! Nur wenn der Stollen versperrt werden würde, hatten sie eine Chance auf Flucht, ansonsten würden sie rigoros abgeschlachtet werden. Dass die Bestien noch nicht hier waren, hatten sie der Gruppe von Männern zu verdanken, die in der großen Höhle zurückgeblieben war und ihr Leben dafür gaben, damit sie noch Zeit zum Handeln hatten. Doch, wenn der Gruppenführer sich jetzt opferte, gab es niemanden mehr, der sie sicher hier heraus und in die Berge führen konnte. Nein, Melia wusste sofort, dass er das nicht tun durfte. Doch sie wusste auch, dass sich niemand sonst dazu bereit erklären würde. Also war ihr klar, was sie zu tun hatte. „Ich mach das!“ rief sie und trat zu den beiden Männern.
„Was?“ Der Gruppenführer schaute sie überrascht an.
„Die Menschen hier brauchen einen Führer!“ entgegnete Melia sofort. „Sie brauchen sie !“ Sie nickte dem Mann zu und fasste ihre Waffe, die sie noch immer mit sich trug, fester. „Einfach nur drücken?“ fragte sie mit einem Blick auf den qualmenden Zündkasten.
Der Gruppenführer schaute sie einen Moment stumm an. Dabei sah er die echte Entschlossenheit in Melias Gesicht. Deshalb nickte er. „Einfach nur drücken!“
Melia lächelte freudlos. „Ich will ihr Versprechen, dass sie sich um den Jungen kümmern!“ Sie deutete auf Chalek, der hinter ihr stand.
Der Gruppenführer nickte, dann wurde sein Blick traurig. „Natürlich!“
Melia antwortete nicht, sondern schnappte sich den Jungen und reichte ihn dem Gruppenführer auf den Arm. Als Chalek sie mit großen Augen anschaute, huschte ein echtes Lächeln über ihre Lippen, ihre Augen strahlten und sie gab ihm einen sanften Kuss auf die schmutzige Stirn.
Deutlich spürte sie dabei den Kloß im Hals, doch sie wusste, sie konnte und durfte sich ihren Gefühlen jetzt nicht hingeben. Also schaute sie noch ein letztes Mal auf den Gruppenführer, dann drehte sie sich um und rannte zum anderen Ende des Stollens, wobei sie sich zwang, nicht auf ihre Angst zu hören und nicht auf ihren rasenden Herzrhythmus zu achten.
Je weiter sie kam, desto lauter wurde der Kampflärm aus der großen Höhle und als sie schließlich den zweiten Auslöser für die Sprengladungen erreicht hatte, konnte sie das grausame Schauspiel eines furchtbaren Massakers in allen Einzelheiten sehen. Von den zwei Dutzend Männern, die die Verteidigung übernommen hatten, waren nur noch eine Handvoll am Leben, die sich nur wenige Meter von Melia entfernt hinter einigen größeren Felsbrocken verschanzt hatten und aus allen Rohren auf die Flut von Bestien feuerten, die noch immer in die Höhle hinein schwappte. Melia schätzte ihre Zahl auf etwa vierzig. Sie ließen nicht aufhalten und es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Verteidigungslinie endgültig zusammenbrechen würde und die Monster ungehindert in den Stollen eindringen konnten.
Melia war klar, dass sie nicht mehr zögern durfte.
Gerade aber, als sie das Gerät zur Hand nahm und die Taste drücken wollte, hörte sie in all dem Kampflärm die aufgeregte Stimme des Gruppenführers, der entsetzt Chaleks Namen rief. Instinktiv drehte sich Melia herum und musste fassungslos mit ansehen, wie der Junge sich von dem Mann losriss, ihm dabei seine Waffe entwendete und auf sie zustürmte.
„Chalek, nein!“ brüllte Melia sofort und hielt in ihrer Bewegung inne. Sie konnte jetzt den Auslöser nicht mehr drücken, das hätte unweigerlich das Todesurteil für Chalek bedeutet.
Drei Sekunden später war der Junge bei ihr. Melia wollte sich zu ihm herabbeugen und ihn in ihre Arme schließen und dann den Auslöser drücken. Unter diesen Umständen konnte sie das Leben des Jungen nicht mehr retten, das wusste sie. Am anderen Ende des Stollens gab es über einhundert Flüchtlinge. Sie konnte und durfte das Leben des Jungen nicht darüber stellen. Doch sie wollte Chalek in ihren Armen halten, wenn sie ihr beider Leben ein Ende setzte.
Chalek aber achtete gar nicht auf ihre Geste, sondern griff sofort nach dem Auslöser für die Sprengladungen und reichte ihr dafür die Waffe des Truppenführers. Melia war derart perplex von dem Tun des Jungen, dass sie nichts sagen und auch nicht reagieren konnte, als Chalek sich in ihrem Rücken bis auf ihre Schultern zog. Dann erst fand sie ihre Stimme wieder. „Was...?“ Sie dreht ihren Kopf, sodass sie das Gesicht des Jungen sehen konnte.
Doch Chalek stöhnte nur aufgeregt. In seinem Blick lag keine Furcht, nur wilde Entschlossenheit. Er schaute auf Melias Hände, dann stöhnte er wieder, formte mit seinen Händen fiktive Pistolen und deutete dann mit dem Kopf in Richtung großer Höhle.
Und da hatte sie verstanden, was er von ihr wollte. „Alles klar!“ rief sie, stellte ihre Beine etwas breiter auseinander, damit sie sichereren Stand hatte, dann hob sie beide Gewehre an je eine Seite, stemmte sie in ihren Oberkörper und richtete sie auf die Bestien aus, denen es gerade gelungen war, an einer Seite durch die Verteidigungslinie zu brechen und die jetzt ohne Umwege direkt auf sie zusteuerten. „Halt dich fest!“ rief sie dem Jungen zu. „Gott, das wird wehtun!“ meinte sie zu sich selbst und dachte an die höllischen Schmerzen, die ihr der Rückstoß der Waffen sicherlich einbringen würde. „Auf Drei!“ Sie atmete einmal tief durch. „Eins...!“ Drei Bestien stürmten pfeilschnell auf sie zu. „Zwei...!“ Sie brüllten, sie quiekten voller Vorfreude auf ein bestialisches Mahl. „Fahrt zur Hölle...!“ sagte Melia vollkommen ruhig, dann brüllte sie „Drei!“ und drückte ab.
Die Waffen an ihren Seiten spuckten die Geschosse aus und sorgten dafür, dass Melias ganzer Körper zu zitterten begann. Einen Wimpernschlag später sah sie erste Blitze an der Stollendecke und deutliche Explosionsgeräusche, während sie spürte, wie sie der Rückstoß der Waffen von den Füßen riss und rücklings durch den Stollen trieb.
Melia musste schreien, weil sie das Gefühl hatte, um sie herum würde die ganze Welt vollkommen zerstört werden.
Im selben Moment aber spürte sie, wie Chalek von ihren Schultern gerissen wurde. Auch der Junge schrie. Doch Melia konnte der gewaltigen Kraft, die mit ihr spielte, nichts entgegensetzen. In ihrem Herzen aber spürte sie einen furchtbaren Stich und schreckliche Angst um den Jungen überkam sie.
Und während sie beinahe zwanzig Meter durch die Luft flog, folgten ihr die Explosionen an der Stollendecke und der Fels donnerte nur wenige Zentimeter vor ihr mit einem unglaublichen Getöse zu Boden.
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