So viele Menschenopfer hatte dieser Krieg schon gefordert und es waren sicherlich unfassbar viele Kinder darunter. Die Schwächsten unter ihnen, mehr als alle anderen dem Tode geweiht.
Und jetzt war Kaleena schwanger und würde ein weiteres dieser schwachen Leben in diese schreckliche Welt setzen, hinein in einen gnadenlosen Krieg – hinein in eine Welt, die alles andere als lebenswert war.
„Oh mein Gott!“ Vilos Erkenntnis traf ihn härter als jeder Hammerschlag. Wie schlimm musste es für Kaleena gewesen sein, zu erfahren, zu wissen, dass sie schwanger war, dass sie neues Leben in sich hatte und genau dieses Leben, das sie lieben würde, wie sonst nichts auf der Welt, nichts außer Grausamkeit und Tod zu sehen bekommen würde? Selbst, wenn es ihnen gelingen würde, dieses kleine Leben auf Dauer zu retten, welch ein Leben würde es denn im Zeichen von Terror und Mord werden?
Ja, Vilo war sicher: Wenn ihm diese Gedanken jetzt in den Kopf schossen, dann hatte auch Kaleena sie gehabt. Und dann wusste er auch, welche Schlussfolgerung sie daraus gezogen hatte.
Wenn sie die Wahl hatte, ihrem eigenen Kind das Leben zu schenken oder zu verhindern, dass es überhaupt in diese schreckliche Welt hineingeboren wurde, dann... – und Kaleena hatte eine Wahl gehabt!
Oh, Vilo wusste in diesem Moment ganz genau, welche Entscheidung sie getroffen hatte!
Und jetzt war sie allein in dem Dorf im Süden und wartete auf ihn. Umgeben von Fremden – und zwei Ärzten! Und der Gewissheit, dass Vilo drei Tage brauchen würde, um zurückzukehren. Genug Zeit, um es zu beenden, ohne dass Vilo je etwas davon erfahren hätte. „Um Himmels willen!“ rief er und starrte mit großen Augen in die Runde.
„Es tut mir leid, ich...!“ hob Cosco an, doch er verstummte, weil er erkannte, dass seine Worte keinen Sinn ergaben. Das Verhalten des ehemaligen Nuri hatte auch bei ihm Gedanken ausgelöst und auch er war zu einem furchtbaren Schluss gekommen.
„Ich muss zurück!“
„Was?“ Damos war sofort geschockt.
„Ich muss zurück! Sofort!“ Vilo machte kehrt.
„Aber...! Nein, halt!“ rief der Alte ihm nach. „Wir sind schon zu weit. Wir sind schneller, wenn wir unseren Weg fortsetzen!“
Vilo hielt inne und drehte sich um. In seinen Augen waren Tränen zu sehen.
„Sie brauchen einen Tag, um zurückzukehren!“ meinte Damos mitfühlend. „Mit Leiras Hilfe werden wir in wenigen Stunden in dem Dorf im Norden sein und dann können wir mit einem Transporter noch schneller zurückkehren!“
Vilo schien noch nicht überzeugt.
„Ihr Freund hat Recht!“ stimmte das Gesicht zu. „Verlieren sie keine Zeit!“
Vilo blickte in die Runde, dann nickte er. „Also gut!“ Er ging direkt auf Leira zu, die ihn mitfühlend ansah. Als er bei ihr war, winkelte sie ihren rechten Vorderlauf so an, dass Vilo bequem aufsteigen konnte. Während er sich direkt hinter ihren Kopf setzte, taten es ihm Cosco und Damos gleich.
Vilo schaute noch einmal zu dem Gesicht. „Danke!“
„Ich habe zu danken. Durch eure Hilfe ist mir meine Verantwortung bewusstgeworden! Ihr habt mein Versprechen, dass wir nichts unversucht lassen werden, euch in diesem Krieg zur Seite zu stehen!“
„Es ist gut zu wissen, dass man nicht alleinsteht!“
Das Gesicht lächelte. „Lebt wohl, meine Freunde. Wer weiß, vielleicht werden wir uns eines Tages wieder begegnen!?“
Vilo nickte.
„Viel Glück für euch alle!“ rief das Gesicht. „Und jetzt, Leira, lauf geschwind wie der Wind!“
Das Tier brüllte, dann bäumte es sich auf, drehte sich herum und rannte von der Lichtung in den dunklen, unbekannten Wald hinein, wo es letztlich ohne Pause in einer beachtlichen Geschwindigkeit nach Norden hetzte, während Vilos Herz mit jedem Schritt immer nervöser, aber auch schwerer wurde, weil ihm eine Stimme tief in seinem Inneren deutlich sagte, dass er bereits zu spät war...
Melia nahm die Berührung an ihrem linken Oberarm nur im Unterbewusstsein wahr und hätte sie am liebsten wieder vollständig verdrängt, denn der Traum, den sie durchlebte, war wunderbar angenehm.
Nach dem dritten Stupsen jedoch konnte sie es nicht mehr ignorieren und ihr Verstand erwachte allmählich.
Im ersten Moment dachte sie, es wäre Chalek, der noch immer nicht schlafen konnte und ihr etwas mitteilen wollte, doch da ihr Kopf nach links gedreht war, konnte sie das Lager des Jungen sofort, nachdem sie ihre Augen zum ersten Mal kurz geöffnet hatte, sehen und erkannte ihn schlafend in eine Decke gehüllt.
Dann spürte sie mit einem Mal eine Hand auf ihrer linken Brust und war sicher, Nimas wäre für diese höchst unpassende und unangenehme Störung verantwortlich. Ihr Verdacht erhärtete sich, als ihre Sinne weiter erwachten. Denn sie konnte ihn jetzt nicht nur spüren, sondern auch erkennen, dass er seinen rechten Arm unter ihr T-Shirt geschoben und seine Hand auf ihre linke Brust gelegt hatte.
Melia war sofort verärgert. Zum einen, weil Nimas dies ohne ihre Erlaubnis getan und sich dadurch offensichtlich derart aufgegeilt hatte, dass er sie jetzt wecken musste, um seine Lust an ihr zu befriedigen, zum anderen, dass sie seine Unverschämtheit nicht bemerkt, sondern sich ihrem Traum hingegeben hatte.
In der nächsten Sekunde aber war sie verwirrt, denn Nimas schlief neben ihr tief und fest und rührte sich nicht.
Plötzlich spürte sie erneut eine Berührung an ihrem Arm und als sie jetzt genauer hinschaute, konnte sie über sich eine Gestalt erkennen. Es war ein Mann in schwarzer Kleidung. Er kniete neben ihr. Sein Blick war ernst und direkt auf sie gerichtet.
Nachdem sich ihre Augen endlich an das Halbdunkel innerhalb der Höhle gewöhnt hatten, erkannte Melia ihn als den Priester, der Chaleks Vater am gestrigen Tage hier aufgesucht, mit dem er ein offenes und kontroverses Gespräch geführt und schließlich zusammen mit ihm das Lager verlassen hatte.
Beim Anblick seines ernsten Gesichtsausdrucks überkam sie sogleich ein ungutes Gefühl. Sie richtete sich halb auf, indem sie sich auf ihren linken Unterarm stützte und wollte etwas sagen, doch der Priester legte seinen rechten Zeigefinger auf seinen Mund und schüttelte den Kopf. Dann erhob er sich und deutete ihr an, ihm zu folgen.
Melia schob sich weiter in die Höhe, als sie wieder Nimas Arm spürte. Genervt zog sie ihn unter ihrem T-Shirt hervor und legte ihn neben sich. Dabei blickte sie den Priester an und obwohl keinerlei Reaktion von ihm kam, war ihr die ganze Sache doch peinlich.
Nachdem sie sich von ihm befreit hatte, erhob sie sich und richtete ihr T-Shirt, während sie zufrieden feststellte, dass weder Nimas noch Chalek erwacht waren.
Der Priester drehte sich wortlos um und ging in Richtung Lagerfeuer in der Mitte der Höhle. Melia folgte ihm.
Was sie nicht mehr sehen konnte, war, dass der Junge am Ende doch seine Augen aufschlug und ihr ausdruckslos hinterherschaute.
Der Priester hielt einige Meter Abstand zu der großen Feuerstelle in der Mitte der Höhle, wo etwa ein Dutzend Männer und Frauen in kleinen Gruppen zusammensaßen und sich leise unterhielten oder einfach nur gedankenversunken in die wärmende Glut schauten. Dann stoppte er ab und drehte sich herum zu Melia, die ihn ein paar Sekunden später erreichte.
Im Lichtschein des Feuers konnte sie den Mann jetzt zum ersten Mal wirklich richtig erkennen und sie war doch sehr überrascht, dass er noch sehr jung schien. Sie schätzte ihn kaum älter, als sie selbst war. Das nächste, was ihr auffiel, war sein schmutziges Gesicht, in dem sich teilweise blutige, aber bereits angetrocknete Striemen zeigten. Auch auf seinem schwarzen Anzug konnte Melia Schmutz und Blut erkennen. Obwohl der Priester auf den ersten Blick ziemlich mitgenommen aussah, konnte Melia feine, ebenmäßige Gesichtszüge und ein dennoch gepflegtes Äußeres feststellen. Kurze blonde Haare und auffallend hellgrüne Augen ließen ihn auf sie attraktiv wirken, obwohl ihr dieser Ausdruck in Zusammenhang mit einem Geistlichen, doch eher unpassend erschien.
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