Als er Melia wieder direkt anblickte, konnte sie deutlich seinen gehetzten Gesichtsausdruck erkennen, den er jedoch mit einem gequälten Lächeln zu verbergen versuchte.
Melia hatte sofort so etwas wie Mitleid mit ihm.
„Danke, dass ich sie wecken durfte!“ begann der Priester nervös und nickte ihr zu.
„Kein Problem!“ erwiderte Melia, doch blieb sie ernst und vorsichtig, da ihre innere Stimme noch immer mahnte. „Was ist passiert?“
Das Gesicht des Mannes verhärtete sich für eine Sekunde. „Das Schlimmste!“
„Chaleks Vater ist tot!“ Das war keine Frage von Melia.
Der Priester nickte betroffen.
Melias Gesichtsausdruck zeigte sofort tiefe Bestürzung, dann sog sie die Luft hörbar in ihre Lungen, während sie sich zu ihrem Lager herumdrehte und den schlafenden Körper des Jungen betrachtete. Tiefe Trauer befiehl sie und großes Mitleid.
„Wir müssen dringend reden!“ warf der Priester plötzlich ein und seine Stimme klang drängend.
Melia betrachtete den Jungen noch einige Momente stumm, wobei sich ihre Augen mit Tränen füllten, dann atmete sie einmal tief durch, wischte sich mit dem Handrücken über ihr Gesicht und drehte sich zurück zu dem Mann. Dann nickte sie. „Erst aber möchte ich wissen, wer sie sind?“
„Ich...!“ Der Priester schien ein wenig überrascht. „...bin Pater Jorivo. Ich komme aus Guavit!“
„Warum waren sie gestern schon hier? Und warum haben sie den alten Chalek mitgenommen?“
Pater Jorivo schien wieder überrascht und schüttelte den Kopf. „Ich war hier, um den Brief, den sein Vater...!“ Er deutete mit dem Kopf auf den schlafenden Jungen. „...geschrieben hatte, in Empfang zu nehmen und weiterzuleiten!“
„An wen?“
„An...Tarista Alamari. Er ist der oberste Geistliche Tibuns und Vorsteher des Klosters von Kusatis, etwa...!“
„...dreißig Meilen südlich von Porista !“ beendete Melia den Satz und nickte.
„Ja, aber woher...?“ fragte Jorivo sofort überrascht.
„Er hat es mir gesagt, als er mich bat, auf den Jungen aufzupassen!“
Jorivo nickte.
„Wenn sie den Brief nehmen sollten, den er geschrieben hatte, warum ist er dann doch selbst gegangen?“
„Der Brief enthielt ungeheuer wichtige Informationen, die ich dem Tarista überbringen sollte. Doch wie all seine Vorgänger auch steht er den alten, geächteten Glaubenslehren abweisend gegenüber, deshalb hielt ich es für besser, der alte Chalek würde mich zu begleiten, falls seine geschriebenen Worte nicht das nötige Gehör finden sollten!“
„Geächtete Glaubenslehren?“ Melia war sichtlich verwirrt und schüttelte den Kopf. „Was soll das bedeuten?“
„Das ist ziemlich kompliziert zu erklären!“ erwiderte Jorivo sofort. „Sagen wir einfach, es gibt schon seit Urzeiten unterschiedliche Ansichten über verschiedene Vorkommnisse in der Planetengeschichte!“
Melia nickte, jedoch wenig überzeugt. „Und um was genau ging es in diesem Brief?“
„Es ging um die Zukunft des Jungen!“ Der Pater schaute wieder zu der Schlafnische hinüber.
„Sein Vater wollte ihn in den Schutz der Kirche stellen!?“
Jorivo nickte, jedoch zögerlich. „Ja. Der Junge ist etwas ganz Besonderes!“
Melia lachte leise auf und nickte zustimmend. „Oh ja, das ist er!“ Ihre Stimme klang tief gerührt. Sofort erinnerte sie sich an den weißen Stein, den er ihr vor wenigen Stunden gegeben hatte und tastete danach.
Jorivo lächelte wissend, doch schüttelte er den Kopf. „Er ist weit außergewöhnlicher, als sie es sich...als wir alle es uns vorstellen können! Es ist deshalb von größter Wichtigkeit, dass er beschützt wird!“
Melia schaute den Priester einen Moment stumm an. „Wie ist sein Vater gestorben?“
„Wir hatten das Kloster von Kusatis fast erreicht, als eine furchtbare Armee von widerlichen Bestien aus Westen kommend in die Ebene stürmte und alles und jeden tötete, der sich ihr in den Weg stellte. Sie haben die Mauern des Klosters einfach überrannt und es vollkommen zerstört. Chalek und ich versuchten, uns einen Weg aus dieser Hölle zu bahnen. Doch in dem Moment, da die Rettungsfähre vor unseren Augen zu Boden sank, wurden diese Ausgeburten der Finsternis auf uns aufmerksam. Zwar gelang es uns, noch an Bord zu kommen, doch Chalek hatte zu diesem Zeitpunkt bereits tödliche Verletzungen erlitten!“ Jorivos Stimme wurde schwächer und sehr traurig. Den Schmerz, den er empfand, konnte man ihm deutlich ansehen.
„Wir müssen es dem Jungen sagen!“ meinte Melia schließlich nach ein paar Momenten der Stille.
Jorivo nickte. „Natürlich müssen wir das. Aber ich möchte erst geklärt haben, wie es mit ihm weitergeht!“
„Was soll das heißen?“ fragte Melia, doch an ihrem Tonfall konnte man bereits erkennen, dass sie es schon selber wusste.
„Chalek ist in meinen Armen gestorben!“ begann der Priester. „Ihm war klar, dass es mit der Zerstörung des Klosters keine Chance auf Zuflucht für seinen Sohn mehr geben würde. Seine letzten Worte galten daher dem Menschen, dem er am meisten vertraute...!“
„Wem?“ Melia schien ihn nicht recht verstanden zu haben und war etwas verwirrt.
Jorivo schaute sie direkt an. „Ihnen!“
„ Mir? “ Melia war sichtlich erstaunt.
Der Pater nickte. „Er hat mir erzählt, wie schnell und wie stark Chalek Vertrauen zu ihnen gefasst hat. Niemals zuvor war das geschehen. Doch sein Vater wusste, warum das so war. Chalek hat die Gabe, in uns hinein zu schauen. Und in ihnen muss er etwas ganz Besonderes gefunden haben, sodass auch sie etwas ganz Besonderes sind. Mit dem Tod vor Augen, erkannte sein Vater dann auch den Grund dafür...!“ Jorivo schaute Melia wieder direkt an, die an seinen Worten förmlich klebte. „Ihre Begegnung mit Chalek geschah nicht zufällig, sie war vorherbestimmt!“
„Und...zu welchem Zweck?“
„An die Stelle des Vaters zu treten und den Jungen in ihre Obhut zu nehmen!“
„Aber...?“ Melia schüttelte den Kopf. „Das ist doch wohl selbstverständlich. Ich werde dem Jungen sagen, was geschehen ist und ich werde mich natürlich weiterhin um ihn kümmern, bis wir...!“
Melia verstummte, denn sie sah, dass der Priester den Kopf schüttelte.
„Chalek ist keine Aufgabe für eine selbstbestimmte Zeit. Es ist eine Berufung und sie endet erst und ausschließlich...mit dem Tode!“
„Aber...?“ Melia schüttelte wieder den Kopf und blickte zu dem schlafenden Jungen. Oh natürlich mochte sie ihn. Und sie hatte ihn doch auch schon ganz tief in ihr Herz geschlossen, empfand bereits so etwas wie Liebe für ihn. Und natürlich würde sie sich um ihn kümmern, jetzt, wo sein Vater nicht mehr lebte. Aber ihn zu sich nehmen, wie eine Mutter, für ihn die Verantwortung übernehmen, ein ganzes Leben lang? Wie sollte das nur gehen, wo sie doch noch nicht einmal selbst wusste, wer sie war und wo sie eigentlich hingehörte? „Wie kann ich etwas Derartiges versprechen?“ Sie blickte Jorivo hilfesuchend, ja fast schon verzweifelt an. „Ich weiß, dass Chalek etwas ganz Besonderes ist. Und dass es weit mehr ist, als man vermuten möchte. Ich habe bereits eines seiner Wunder gesehen!“ Melia hielt inne und sah vor ihrem inneren Auge die Szene, in der er ihr den weißen Stein mit dem Gesicht des Mannes, den sie offenbar auf eine wunderbare, aber auch wundersame Weise im Herzen trug, gegeben hatte. Instinktiv musste sie kurz lächeln. Doch dann verlor sie es wieder und ihr Blick wurde traurig und unsicher. Ihr wurde erneut, und dieses Mal sehr viel klarer und intensiver, bewusst, welch außergewöhnlicher Mensch dieser Junge wirklich zu sein schien, doch sie war sehr sicher, dass sie nicht einmal einen winzigen Bruchteil dessen verstanden hatte, was ihn wirklich ausmachte. Deshalb kamen ihr sofort erhebliche Zweifel. „Aber wie könnte ich auch nur im Entferntesten annehmen einer solchen Aufgabe gewachsen zu sein?“ Wieder schüttelte sie den Kopf.
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