Lydia Smythe trug Uniform und hatte bislang nur den Gurt mit dem Ehrendegen und die Mütze abgelegt. Jetzt, unter der Wirkung von Alkohol und Kaminfeuer, öffnete sie ihre weiße Ausgehjacke. Zumindest die oberen Knöpfe, und gerade weit genug, dass Finnegan Walker die Gerüchte unter der Mannschaft bestätigt sah. Unter der formellen Schale der Offizierin verbarg sich eine sehr ansehnliche Frau.
„Der Offizier, der den Befehl von der Admiralität brachte, erklärte uns, man hielte es für besser, die Thunderer für einige Zeit aus dem Wasser zu nehmen“, erläuterte die hübsche Frau. „Wenigstens solange, bis sich die Franzosen weiter beruhigt haben.“
„Sie und das Schiff können nichts für meine damaligen Befehle.“ McDenglot kippte den Inhalt seines Glases hinunter und trat zu Walker, um sich nachzuschenken. „Aber es kann der Thunderer nicht schaden, wenn sie einmal ordentlich überholt wird.“ Er wandte sich Lydia Smythe zu. „Gibt es schon Hinweise, wie sich die Admiralität die Zukunft des Schiffes vorstellt?“
Sie wusste, worauf er hinauswollte. „Bislang nicht.“
„Vielleicht beruft man Sie wieder ins Kommando“, meinte Finnegan Walker hoffnungsvoll. „Ich meine, wenn etwas Gras über die Sache gewachsen ist, dann könnte die Admiralität Sie doch wieder in Dienst nehmen.“
„Eher nicht“, erwiderte McDenglot grimmig. „Aber es könnte eine Chance für Lydia sein, ihr erstes Kommando zu erhalten. Die Thunderer wäre kein schlechter Anfang in einer Kommandokarriere.“
„Ich würde ungern in Ihre Schuhe treten, Captain“, murmelte sie. „Es wäre kein schönes Gefühl, an Ihrer Stelle auf der Brücke zu stehen.“
„Ich vermisse das alte Mädchen“, gab der Schotte bereitwillig zu. „Aber ich weiß es lieber in Ihren Händen, Lydia, als in denen eines fremden Offiziers.“
„Herzlichen Dank.“ Sie prostete ihm zu und lächelte.
Für einen Moment herrschte Schweigen, bei dem jeder seinen eigenen Gedanken nachhing.
Finnegan Walker bemerkte den versunkenen Blick, mit dem der Captain die Offizierin betrachtete und der Ausdruck der Augen machte ihn verlegen. Riss der Anblick der Marineuniform die Wunde des Schotten noch tiefer auf oder bemerkte er in diesem Augenblick, welch attraktive Frau da im Sessel saß? Es war jedenfalls ein seltsamer Blick, den Walker nicht zu deuten wusste, und er wandte sich ab, um zum wiederholten Mal das private Reich seines früheren Vorgesetzten zu betrachten.
Der Wohnraum von Eugenius McDenglot nahm eine komplette Etage des Rundturms ein. Die nackten Natursteine waren zu sehen und Walker schätzte, dass es im Winter verdammt ungemütlich werden konnte. Daran würde der Kamin nichts ändern, und auch nicht die Rohre der beiden Dampfleitungen, die an einer Wand aus dem Boden kamen und ins darüber liegende Stockwerk führten. Im nördlichen Teil des Raums waren die Durchbrüche des Aufgangs mit den gemauerten Treppenstufen. Sie folgten dem runden Verlauf der Mauer. Es gab kein Geländer und die Stufen waren schmal. Man musste schon einen sicheren Schritt haben, um nicht daneben zu treten.
Der Turm hatte einen beachtlichen Durchmesser und so gab es erstaunlich viel Platz auf seinen Ebenen. Im Wohnraum des Captains reichte es für eine gemütliche Sitzgruppe, an der sie auch gegessen hatten, einen großen Schreibtisch mit Polsterstuhl sowie zwei Kommoden und einige schmale Bücherregale. Die Möbel waren alt und an einigen Stellen sehr geschickt ausgebessert, so dass man die Spuren kaum sah. Die Bücherregale faszinierten Finnegan Walker. Er war kein großer Freund davon, seine Zeit mit Lesen zu verschwenden, aber die Geschicklichkeit, mit der man die Regale an den Raum angepasst hatte, beeindruckte ihn. Es gab eine ganze Reihe alter ledergebundener Bücher und auch moderne Druckerzeugnisse. Eines der Regale wurde von Enzyklopädien eingenommen. Der Chief erkannte eine gebundene Ausgabe der „Encyclopedia Britannica“ mit ihren zweiunddreißig Bänden, die sicher ein Vermögen an Goldvictorias Wert war. Daneben standen in chronologischer Folge die Werke von „Jane´s Fighting Ships“, einem Militärkatalog, der seit vielen Jahrzehnten die Kriegsschiffe der Welt auflistete. Die Reihe war wohl in jeder Admiralität der Welt vertreten und erwies sich als überraschend gut informiert. Erst in den letzten Jahren, seit Napoleon seine neuen Eroberungszüge angetreten hatte, wurden die Angaben deutlich spärlicher.
„Ich glaube, ich könnte ein wenig frische Luft gebrauchen“, gestand Lydia Smythe ein.
„Eine gute Idee.“ Eugenius McDenglot erhob sich und deutete eine Verbeugung an. „Wenn ich Ihnen meine Begleitung anbieten darf?“
Sie erhob sich und wankte einen Moment. McDenglot stützte sie rasch ab und erhielt dafür ein dankbares Lächeln.
Der Schotte sah den Chief an. „Von der Turmplattform aus hat man einen wundervollen Ausblick auf das Loch und wir haben Glück, dass kein Nebel über dem Land liegt.“
Walker verstand die Einladung, winkte aber ab. „Wenn Sie nichts dagegen haben, Captain, würde ich lieber einmal in Jane´s Katalog hineinsehen.“
„Tun Sie sich keinen Zwang an, Chief. Mein Heim ist Ihr Schloss, wie wir Schotten gewöhnlich sagen.“
„Nun, Sir, mag so ein, aber ich denke, es ist ein englisches Sprichwort.“
„Wie dem auch sei, Chief, fühlen Sie sich ganz wie zuhause.“
Eugenius McDenglot begleitete Lydia Smythe zur Treppe und achtete darauf, dass sie nicht fehltrat, während sie nach oben gingen.
In der nächsten Turmebene befand sich offensichtlich das Schlafgemach von Eugenius McDenglot.
„Oh, Mann“, entfuhr es Lydia Smythe unwillkürlich, als sie das riesige Bett mit dem gewaltigen Baldachin erblickte.
McDenglot räusperte sich. „Ist nicht unbedingt mein Geschmack, Lydia. Das Ding steht schon seit Generationen hier oben. Mir würde eine Koje reichen, aber dieses Monstrum wurde hier oben zusammengezimmert und lässt sich keinen Zentimeter bewegen. Andererseits bringe ich es einfach nicht übers Herz, es zu Brennholz zu verarbeiten.“
„Ach, irgendwie ist es ja ganz romantisch“, erwiderte sie. „Ein wenig … altmodisch, aber durchaus romantisch.“
„Hm, äh, in der Tat.“ Die Schlafebene war peinlich akkurat aufgeräumt. Nicht ein Stück Wäsche lag herum und das Bett war ordentlich gemacht. Die Art der Faltung der Decke nach Marineart deutete darauf hin, dass der Schotte hier selbst Hand angelegt hatte und dies nicht den Bediensteten überließ. Eine Folge des Lebens auf See, bei dem die räumliche Enge zu Rücksichtnahme und Ordnung zwang.
Die junge Offizierin bemerkte dass Eugenius McDenglot bemüht war, einen bestimmten Abschnitt der Rundwand vor ihren Blicken zu verbergen und der Alkohol gab ihr den Mut, den Schotten zur Seite zu schieben.
„Oh, Mann“, seufzte sie zum zweiten Mal. „Ist das einer Ihrer, äh, Vorfahren?“
Es war ein großes Gemälde, dessen Farben im Lauf der Zeit gelitten hatten. An einigen Stellen war die Leinwand beschädigt, doch die Darstellung eines nackten und kopulierenden Paares war unverkennbar. Der Künstler hatte sich offensichtlich Mühe gegeben, jedes Detail herauszuarbeiten.
Erneut räusperte sich McDenglot und die Röte seines Gesichts vertiefte sich sichtlich. „Einer meiner Vorfahren hat es, äh, gemalt.“
„Selbstportrait?“
„Ich denke, ich brauche in der Tat selbst ein wenig frische Luft“, sagte der Schotte hastig.
Er schob die junge Frau auf den nächsten Treppenabschnitt und drängte sie hinauf. Sie verharrten kurz unterhalb einer schweren Holzluke, die mit Gegengewichten versehen war, und unter dem Druck von McDenglots Hand knarrend nach oben schwang. Augenblicke später standen sie auf der oberen Plattform und traten dann zwischen die Zinnen.
Die frische Luft war kühl und da ein leichter Wind aufkam, fröstelte Lydia in ihrer dünnen Uniform. Vielleicht unbewusst kuschelte sie sich an McDenglot, der sie verlegen mit einem Arm umfing, um sie zu wärmen. Es war das erste Mal, dass sie sich auf diese Weise nahe kamen und sie taten beide, als sei dies ganz selbstverständlich. Was es vielleicht auch war, denn immerhin standen hier nicht Kapitän und Erster Offizier zusammen.
Читать дальше