1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 „Ja“, sagt er nachdenklich. „Vermutlich hast du sogar recht. Gerade wenn es um einen Fall ging, in den auch polizeiliche Ermittlungen mit eingebunden waren, müsste es auf jeden Fall eine Dokumentation dieser Therapiestunden gegeben haben. Aber andererseits wird niemand, der in seinen Therapiesitzungen ein elfjähriges Kind manipuliert hat, das dann auch noch in seiner Patientenakte festhalten.“
„Nein, aber vielleicht kann jemand, der sich auskennt, Fehler entdecken. Du weißt schon, Hinweise, irgendetwas, das nicht stimmt, jemand wie du.“
Frank und ich sehen uns einen Moment lang schweigend an. Es ist einer dieser Momente, in denen stillschweigend aus einem Gedanken ein Plan wird.
„Also gut“, sagt Frank jetzt. „Mal angenommen diese Akte würde existieren, wo müsste man dann danach suchen? Die alte Praxis von Frederik gibt es doch seit Ewigkeiten nicht mehr.“
Ich überlege. „Im Prinzip muss es ja um viele Akten gehen, die in seiner Praxiszeit entstanden sind und die er irgendwo gelagert haben muss. Unser Haus wäre auf jeden Fall groß genug, um massenweise Akten unterzubringen, und er hat ein eigenes Arbeitszimmer im ersten Stock.“
„Ja“, sagt Frank unentschlossen. „Das könnte sein, aber ist irgendwie auch unwahrscheinlich. Ich meine, würdest du die Akte über eine Patientin, die du manipuliert hast, da aufbewahren, wo genau diese Patientin einfach so hineinspazieren und die Akte entdecken könnte, wenn sie wollte?“
„Nein“, sage ich etwas resigniert, und wieder entsteht ein schweigsamer Moment, in dem wir beide vor uns hinstarren.
„Die Klinik“, sagt Frank schließlich entschlossen. „Die Klinik muss ein Archiv haben, das zum einen groß genug ist und zum anderen nicht zugänglich für Privatpersonen.“
„Ja, du hast recht. Die Frage ist nur, wie soll ich als genau so eine Privatperson eine bestimmte Akte aus diesem Archiv holen, ohne mit Frederik in Kontakt zu treten?“
Unser Plan ist zugegebenermaßen nicht sehr kompliziert. Aber immerhin hat er den Vorteil, dass, wenn etwas schief gehen sollte, nur ich diejenige bin, die in Schwierigkeiten steckt.
Ich bleibe eine weitere Nacht bei Frank. Wir essen gemeinsam zu Abend, reden noch lange über all die Fragen, die unsere Überlegungen und Theorien hinterlassen.
Der nächste Morgen beginnt früh für uns. Wir verlassen vor acht die Wohnung und fahren zunächst beide mit dem eigenen Auto zu dem Krankenhaus am anderen Ende der Stadt, in dem Frank arbeitet.
Frank händigt mir einen seiner weißen Kittel und eine weiße Hose aus, und ich fahre sofort weiter zu meiner eigenen Wohnung, wo ich mich umziehe und die weiße Hose noch mit einem weißen T-Shirt und weißen Turnschuhen ergänze. Immer hektischer werdend durchsuche ich einen Aktenordner, bis ich endlich gefunden habe, was ich suche. Ruhig, ich muss jetzt ruhig bleiben, meinen Atem kontrollieren, normal wirken. Jemand der früh am Morgen ein bisschen verschlafen zur Arbeit kommt, nicht jemand der sich mit roten Flecken im Gesicht und schwer atmend hektisch umsieht. Normal. Ruhig.
Die Klinik, in der Frederik arbeitet ist groß, die größte im Umkreis
für Psychiatrie und Neurologie. So groß, dass hoffentlich niemand von den Angestellten genau im Blick hat, wer noch alles jeden Morgen in diesem großen hellen Bau verschwindet.
Wie ein Termitenhügel, denke ich, als ich auf den Parkplatz für Besucher komme und mir im Inneren ein Gewimmel von Fluren, Etagen und Fahrstühlen vorstelle. Und genau so ist es auch. Im Inneren wirkt alles unüberschaubar verzweigt und verschlungen, groß, weiß und kühl.
In der letzten Nacht haben Frank und ich einige Zeit damit verbracht, uns auf der Internetseite der Klinik den Aufbau der einzelnen Abteilungen anzusehen. Und tatsächlich gibt es sogar mehrere Archive hier. Die Neurologie hat ihr eigenes Archiv, die Psychiatrie auch, dieses ist jedoch noch einmal unterteilt in ein Archiv der geschlossenen und eins der offenen Abteilung.
Unsere Vermutung war, dass man, sofern man tatsächlich etwas zu verstecken hat, es dort versteckt, wo man es am besten kontrollieren kann, wo man es möglichst gut im Blick hat. Deshalb würde unser erster Anlaufpunkt das Archiv der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie sein, Frederiks Abteilung. Hier hat er sein Büro, hier ist sein Reich, hier ist er der Herrscher. Von meiner Mutter weiß ich jedoch, dass der Herrscher sein Reich nie vor zehn Uhr betritt. Immerhin ein Luxus, den er sich jetzt im Alter wohl doch erlaubt, den allerdings meine Mutter wenig zu schätzen weiß, die ihre Morgende lieber allein verbringt und Frederik morgens möglichst schnell aus dem Haus haben will.
Um zum Archiv zu gelangen, muss man einmal komplett die gesamte geschlossene Abteilung durchqueren.
Ich bin noch nie in einer Psychiatrie gewesen, erst recht nicht in einer geschlossenen Abteilung. Ich bin mir nicht sicher, was ich hier erwartet habe, vermutlich, dass alles irgendwie freundlicher wirken würde, wärmer, bunter, weniger klinisch. Aber das tut es nicht.
Ein kompakter Pfleger schließt mir die Tür auf, als ich läute, und sieht mich erst fragend, dann aber freundlich an. Er hat einen Bart und die langen Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zurück gebunden. Auf die Frage, wohin ich möchte, sage ich kurz aber höflich: „Zum Archiv, Akteneinsicht für Prof. Neumann aus der Neurologie.“
Als er beginnt, mir zu beschreiben, wo ich das Archiv finde, versuche ich, möglichst beiläufig abzuwinken und sage: „Ja, danke, ich kenne den Weg.“
Er nickt nur, und ich sehe ihm hinterher, wie er im Stationszimmer verschwindet.
Ein langer Flur streckt sich vor mir aus. Alles wirkt sehr hell, sehr weiß, sehr sauber. Ich sehe keine Patienten auf dem Flur, es ist sehr still. Ein bisschen zu still für eine Klinik. Reden erscheint unangemessen, und meine Schritte auf dem Linoliumboden sind zu laut.
Ich weiß, dass ich den Flur nur gerade durchgehen muss, ganz am Ende rechts abbiegen und dann sofort wieder links. Am Ende dieses Flures müsste sich dann das Archiv befinden.
Ich versuche, beim Gehen automatisch meine Schritte zu dämpfen und wundere mich weiter, wo all die Patienten sind. Umso mehr erschrecke ich mich, als ich jetzt links an einer Art Aufenthaltsraum vorbeikomme und einen jungen Mann auf dem Boden sitzen sehe.
Ganz ruhig sitzt er da, hunderte von Puzzleteilen auf dem Boden um ihn herum verteilt. Er sieht mich genau an, er hat ganz klare, blaue Augen. Es ist schwer zu schätzen, wie alt er ist, er hat eher das Gesicht eines Jungen als das eines erwachsenen Mannes. Er sieht unglaublich hübsch aus. Er hätte Renaissancemalern Modell stehen können, denke ich, die auf der Suche nach dem perfekten Gesicht waren, nach der absoluten Harmonie.
Wie aus einem Reflex heraus sage ich: „Hallo.“
Der Junge sieht mich als Antwort nur weiter unverwandt an.
„Bist du ganz alleine hier? Wo sind denn all die anderen?“
Statt zu antworten, zeigt er auf eine Tür schräg gegenüber, die von der rechten Seite des Flurs abgeht. Ich nicke stumm und deute auf all die verstreuten Puzzleteile auf dem Boden.
„Was wird denn das für ein Bild, wenn du damit fertig bist?“
„Himmel“, sagt er nur.
Und tatsächlich sehe ich nur blaue und weiße Puzzleteile, als ich auf den Boden blicke. Ich gehe in die Hocke und frage verblüfft: „Du machst ein so großes Bild nur mit Puzzleteilen vom Himmel?“
Er nickt nur und sieht mich weiter an.
„Wie heißt du?“, will ich jetzt wissen.
„James“, antwortet er, wieder mit dieser weichen, warmen Stimme.
„Okay James, ich muss jetzt weiter, war schön, dich kennen gelernt zu haben.“
Ich spüre, wie er mir hinterher blickt, während ich den Aufenthaltsraum verlasse und wieder in den Flur einbiege. Ich komme an vielen Zimmern vorbei, ganz am Ende des Flurs, kurz bevor ich rechts abbiegen muss, steht an einer der Türen „Dr. Frederik Grabe“. Ich sehe reflexartig auf die Uhr, als ich an seinem Zimmer vorbeigehe, viertel vor neun, es ist noch genug Zeit.
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