1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Endlich komme ich am Vorzimmer zum Archiv an und öffne die Tür vorsichtig, als auf mein Klopfen ein „Herein“ folgt.
Eine Frau in den Fünfzigern sitzt an einem langen Bürotisch. Hochgesteckte, blonde Haare, Brille mit rotem, stabilem Rahmen, zu viel Parfum. Der ganze Raum riecht süßlich und schwer. Schräg hinter ihr befindet sich eine Glastür, hinter der das Archiv sein muss.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragt mich die Frau nicht unfreundlich, aber bestimmt.
„Ich bin von der Neurologie rübergeschickt worden, die Assistentin von Prof. Neumann. Er bittet um eine Akte aus den alten Beständen von Dr. Grabe.“
„Die alten Bestände?“ Sie sieht mich durchdringend an. Wenn es hier keine alten Akten von Frederik gibt, ist es sowieso sofort aus. Ich merke, wie ich zu schwitzen beginne und sich mein Mund auf einmal ganz trocken anfühlt.
„Sie wissen, dass Dr. Grabe dafür persönlich das Formular ausfüllen und unterschreiben muss, wenn die Akten außer Haus gehen?“
„Natürlich“, ich versuche, nicht zu erleichtert zu klingen. „Wenn Sie mir ein Formular mitgeben, werde ich mich gleich darum kümmern, Dr. Grabe ist sehr eingespannt.“
Ohne ein weiteres Wort zu sagen und mich immer noch genau im Blick behaltend, zieht sie eine Schublade am Schreibtisch auf und reicht mir ein gelbes Formular.
Ich sage: „Bis gleich“, und kann es mir nicht verkneifen hörbar auszuatmen, als ich die Tür wieder hinter mir geschlossen habe.
Mit dem gelben Blatt in meiner verschwitzten Hand gehe ich den Flur ein Stück zurück und verschwinde sofort in den Toilettenräumen, wo ich direkt die Tür hinter mir zuziehe und abschließe. Aus der Kitteltasche hole ich jetzt einen Kugelschreiber und die Kopie eines alten Schecks, den mir Frederik vor Jahren einmal ausgestellt hat. Mit dem Kugelschreiber ziehe ich jetzt seine Unterschrift noch einmal nach, damit ich sie halbwegs deutlich durch das hellgelbe Papier hindurch sehen kann. Es funktioniert. Die Unterschrift ist recht deutlich zu erkennen, so dass ich sie ohne große Schwierigkeiten auf dem Formular nachzeichnen kann. Im Feld „Name des Patienten“ trage ich meinen eigenen ein. Ich warte noch ein paar Minuten in der Toilette, damit ich nicht zu schnell zurück im Archiv bin, wasche mir die Hände und trockne mir die verschwitzte Stirn ab.
„Sie müssen vor der Tür warten, während ich die Akte hole.“ Sie wirft einen genauen Blick auf das Formular und sieht mich dann auffordernd an.
„Ja natürlich“, antworte ich und sehe im Herausgehen, wie sie schwerfällig auf die Glastür zugeht.
Es dauert ein paar Minuten. Die Schweißtropfen auf der Stirn kehren zurück, und ich trete nervös von einem Fuß auf den anderen. Schließlich wird jedoch die Tür geöffnet, und eine fleischige Hand reicht mir eine braune Akte, auf der noch maschinegeschrieben mein eigener Name steht, Ingrid Weiß.
„Danke“, sage ich und versuche, meine Finger nicht zittern zu lassen, als ich die Akte endlich in den Händen halte.
Ich kann nicht anders, als jetzt automatisch etwas schneller zu gehen. Kurz bevor ich wieder den Aufenthaltsraum passiere, geht die Tür schräg gegenüber auf. Einige Patienten kommen heraus und strömen auf den Flur.
„Morgenrunde“, sagt der bärtige Pfleger, der auf einmal hinter mir steht und zur offenen Tür hin nickt.
Ich nicke auch und deute auf James, der immer noch alleine im Aufenthaltsraum auf dem Boden hockt. „Warum ist er nicht dabei?“
„Braucht ein bisschen Zeit für sich, hat nicht so gerne viele Leute um sich. Gleich wird es ihm wieder zuviel, aber so hat er wenigstens auch außerhalb seines Zimmers mal eine halbe Stunde Ruhe.“
Der Pfleger riecht muffig und nach Essen, als er jetzt so nah neben mir steht.
„Was ist denn mit ihm?“, frage ich.
„Schwer zu sagen, er ist auf jeden Fall nicht hier, sondern irgendwo anders. Spricht kaum, hat keinen Kontakt zu den anderen, hat aber unglaubliche visuelle Fähigkeiten, und wenn es ein fotografisches Gedächtnis gibt, dann hat er es. Ist schon zu lange hier, bestimmt schon seit einem Jahr.“
„Warum denn?“, will ich wissen. „Ist er denn eine Gefahr?“
„Es gab mal irgendeinen Vorfall, bei dem er wohl ein Kind verletzt hat und sich danach umbringen wollte, und seit dem ist er wohl eine Gefahr“, sagt der Pfleger und klopft mir jetzt kollegial auf die Schulter, als er sich mit „Ich muss dann mal wieder“ von mir verabschiedet.
Ich schaue noch einmal zu James, als ich weitergehe, und sehe auf dem Boden ein ungefähr dreißig mal vierzig Zentimeter großes Stück Himmel mit Wolken liegen. Es sind nicht mehr all zu viele Puzzelteile, die um ihn herum liegen.
„Das hast du alles seit gerade eben gemacht?“, frage ich erstaunt.
„Himmel“, sagt er nur und fährt mit dem Zeigefinger in kreisenden Bewegungen über die Wolken.
Im Fahrstuhl bin ich zum Glück allein, denn jetzt beginne ich, wirklich zu zittern, und ich kann nicht anders, als laut und schwer ein- und auszuatmen. Ich schaffe es gerade eben, nicht die Akte aufzuschlagen, meine Akte. Ich konzentriere mich ganz darauf, ohne großartig aufzufallen das Gebäude zu verlassen.
Während ich durch den Haupteingang ins Freie trete und den Weg zum Besucherparkplatz einschlage, gehe ich schneller als ich sollte, denn ich kann es selber kaum glauben, dass es so einfach funktioniert hat, unser zweifelhafter Plan, der gestern Nacht noch gut, aber heute morgen schon sehr viel unwahrscheinlicher gewirkt hatte.
Ich sitze noch einen Moment regungslos hinter dem Steuer meines Autos, bevor ich Frank anrufe und ihm die Nachricht auf die Mailbox spreche, dass ich die Akte tatsächlich gerade in Händen halte und wir uns wie verabredet in seiner Mittagspause bei ihm im Krankenhaus treffen.
In diesem Augenblick fährt ein Auto genau an mir vorbei, und die Frau hinter dem Steuer sieht sich jetzt suchend nach einem freien Parkplatz um, sieht dabei aber nicht direkt zu mir hin.
Paula, schießt es mir sofort durch den Kopf, und ich fühle mich genau so wie vor zwei Nächten im Garten hinter dem Haus, fasziniert und schockiert.
Ich blicke dem Auto hinterher, starte den Motor, fahre aus der Parklücke und im Schritttempo hinter ihrem Wagen her. Ganz am Ende des Parkplatzes setzt sie den Wagen ungeschickt in eine Parklücke und steigt aus.
Ich beobachte, wie sie zum hinteren Ende des Parkplatzes geht, wo dieser von einer großen Hecke umsäumt wird. Sie zündet sich eine Zigarette an und wartet einen Moment, bevor jetzt auch Frederik ins Sichtfeld tritt, von der anderen Seite kommend, die näher zum Hauptgebäude liegt.
Sie unterhalten sich nur kurz. Ich sehe Frederik wild gestikulieren, bevor er kurz danach entschlossen und schnell den Parkplatz verlässt und auf den Haupteingang zugeht.
Ich setze schnell zurück, da ich auf jeden Fall vermeiden will, dass mich Paula auf dem Rückweg zu ihrem Auto sieht, und verlasse gleich den Parkplatz Richtung Ausfahrt.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Irgendetwas sträubt sich in mir, alleine, ohne Frank, in die Akte zu sehen, und ich erkenne auf einmal, dass es Angst ist. Eine ganz tiefe, dunkle Angst, bei der man, wie bei einem unbekannten Gewässer, nicht sehen kann, wie tief es ist und wie dunkel es dort unten werden kann. Eine Angst, die keine klaren Grenzen hat, nichts was man greifen und ans Licht zerren kann, weil diese Angst viel größer ist, viel umfassender, weil sie alles mit einschließt und angreift was ich bin.
Pünktlich um 12.30 Uhr bin ich bei Frank im Krankenhaus. Dieses seltsame Krankenhaus, wo eigentlich niemand hin will und was trotzdem immer voller Patienten ist.
Vorfälle hatte es hier gegeben, irgendwann Ende der achtziger Jahre. Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern, aber ich weiß noch, dass es Schlagzeilen gegeben hatte. „Todesschwestern“ hatte man sie genannt. Ich glaube, nun ist hier schon lange nichts mehr passiert, aber diese Schwestern verfolgen wie böswillige Gespenster den Ruf des Krankenhauses.
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