Philip Dick - Der dunkle Schirm

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Am Ende des 20. Jahrhunderts: Amerika ist ein Land der Huren, Junkies und Dealer geworden. Bob Arctor ist ein Geheimagent der Drogenüberwachung, doch mehr und mehr wird auch er ein Opfer des Rauschgifts.
„Es brach mir das Herz, den Roman zu schreiben, es brach mir das Herz, ihn zu lesen … Ich glaube, es ist ein Meisterwerk geworden. Ich glaube, daß es das einzige Meisterwerk ist, das ich jemals schreiben werde …
Die komischen Stellen sind die komischsten, die ich je geschrieben habe, und die traurigen sind die traurigsten, und sie sind beide in ein und demselben Buch!“
Philip K. Dick
„Einer der eigenständigsten amerikanischen Autoren … . der das meiste der europäischen Avantgarde wie Nabelschau in einer Sackgasse erscheinen läßt“
Sunday Times
© Copyright 1977 by Philip K. Dick
Originaltiel: A Scanner Darkly

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Quellennachweise:

Auszüge aus »The Other Side of the Brain: An Appositional Mind« von Joseph E. Bogen, M.D. zuerst erschienen im Bulletin of the Los Angeles Neurological Societies, Vol. 34, Nr. 3, Juli 1969. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Auszüge aus »The Split Brain in Man« von Michael S. Gazzaniga, zuerst erschienen im Scientific American, August 1967, Vol. 217. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Gedicht ohne Titel aus Heinrich Heine: Lyric Poems and Ballads, übersetzt von Ernst Feise. Copyright © 1961 by The University of Pittsburgh Press. Mit freundlicher Genehmigung der University of Pittsburgh Press.

Weitere auch im Original deutschsprachige Zitate (vgl. Fußnoten) aus Goethes Faust, Teil I, und aus Beethovens Oper Fidelio.

I

Da stand einmal ein Typ mitten im Raum und versuchte den ganzen Tag lang verzweifelt, sich die Wanzen aus den Haaren zu schütteln. Sein Arzt erklärte ihm, er habe überhaupt keine Wanzen in den Haaren. Nachdem er acht Stunden lang geduscht hatte, wobei er Stunde um Stunde unter dem heißen Wasserstrahl stand und unter dem Gekrabbel der Wanzen litt, trat er wieder aus der Duschkabine und trocknete sich ab, und er hatte immer noch Wanzen in seinem Haar; ja, sie hatten sich jetzt sogar über seinen ganzen Körper ausgebreitet. Einen Monat später hatte er schon Wanzen in der Lunge.

Da es sonst nichts gab, was er hätte tun oder worüber er hätte nachdenken können, machte er sich daran, den Lebenszyklus der Wanzen zu erforschen und zudem mit Hilfe der Encyclopedia Britannica genau zu bestimmen, um welche Gattung von Wanzen es sich eigentlich handelte. Jetzt waren sie schon überall in seinem Haus. Während er die umfangreiche Literatur über die zahlreichen Wanzenarten, die es auf der Welt gab, systematisch durcharbeitete, bemerkte er schließlich auch draußen im Freien Wanzen, und daraus schloß er, daß es sich wohl eher um Vertreter der Spezies Aphidina handeln müsse – also um Blattläuse. Nachdem er einmal zu dieser Erkenntnis gelangt war, ließ er sich auch davon nicht mehr abbringen, ganz gleich, was andere Leute ihm erzählen mochten … wie zum Beispiel: »Aber Jerry, Blattläuse beißen doch keine Menschen!«

Er aber wußte es besser, weil die endlosen Wanzenbisse ihm mittlerweile wahre Höllenqualen bereiteten. Im 7-11-Kolonialwarenladen, der zu einer Ladenkette gehörte, die sich über fast ganz Kalifornien erstreckte, erstand er Sprühdosen mit Razzia, Schwarzkreuz und Hofwächter. Erst sprühte er das Haus damit ein und schließlich auch sich selbst. Das Hofwächter-Spray schien am besten zu wirken.

Zugleich verfolgte er auch den theoretischen Aspekt des Problems weiter und entdeckte dabei drei Entwicklungsstadien im Lebenszyklus der Wanzen. Zunächst wurden sie von Menschen, die er fortan »Wanzenträger«, nannte, in sein Haus eingeschleppt, um ihn zu verseuchen. Diese Wanzenträger waren Personen, die sich ihrer Rolle bei der Verbreitung der Wanzen gar nicht bewußt waren. Während dieses Stadiums hatten die Wanzen noch keine Beißwerkzeuge oder Mandibeln. (Er lernte dieses Wort anläßlich seiner wochenlangen Forschungsarbeiten kennen, während der er sich immer tiefer in die Bücher vergrub – eine recht ungewöhnliche Beschäftigung für einen Typen, der in einem Bremsen- und Reifen-Schnelldienst arbeitete, wo seine Aufgabe darin bestand, Bremstrommeln zu richten.) Die Wanzenträger spürten daher nichts. Oft hockte Jerry jetzt im. hintersten Winkel des Wohnzimmers und beobachtete die Wanzenträger, die den Raum betraten. Es waren meist Leute, die er schon länger kannte, aber er entdeckte auch einige neue Gesichter darunter. Sie alle waren über und über mit Blattläusen dieses ersten Entwicklungsstadiums bedeckt. Manchmal lächelte Jerry auch schief vor sich hin, weil er als einziger wußte, daß die betreffende Person von den Wanzen benutzt wurde und das noch gar nicht geschnallt hatte.

»Warum grinst du eigentlich so, Jerry?« fragten sie ihn dann bisweilen.

Er aber lächelte nur weiter vor sich hin und antwortete nicht.

Im nächsten Stadium wuchsen den Wanzen eine Art Flügel; nun, eigentlich waren es keine richtigen Flügel, sondern eher Auswüchse, die die Funktion von Flügeln erfüllten und es den Wanzen ermöglichten, auszuschwärmen, denn nur so konnten sie von einer Person zur anderen überwechseln und sich auf einem neuen Träger niederlassen – also in erster Linie auf Jerry. Wenn die Wanzen zu schwärmen begannen, war die Luft voll von ihnen; sie hingen wie lebende Wolken in seinem Wohnzimmer, ja in seinem ganzen Haus. Während dieses Stadiums versuchte er, sie nicht einzuatmen.

Am meisten tat Jerry sein Hund Max leid, denn er konnte sehen, wie die Wanzen auf ihm landeten und sich überall in seinem Fell niederließen. Vielleicht gelangten sie auch in Max’ Lunge, so wie sie in seine eigene Lunge eingedrungen waren. Jerry glaubte zu spüren, daß der Hund ebenso stark litt wie er selbst. Deswegen überlegte er, ob er Max fortgeben sollte, um wenigstens ihm das Leben leichter zu machen. Aber schließlich entschied er sich doch dagegen, weil der Hund ja bereits versehentlich infiziert worden war und ihn die Wanzen darum überallhin begleiten würden.

Manchmal nahm er den Hund mit unter die Dusche und versuchte, ihn von den Wanzen zu säubern. Aber er hatte bei Max auch nicht mehr Erfolg als bei sich selbst. Da er ein sehr mitfühlender Mensch war, schmerzte es ihn, mit ansehen zu müssen, wie der Hund litt; daher setzte er die Versuche, ihm zu helfen, unermüdlich fort. In gewisser Weise waren die Qualen dieses hilflosen Tieres, das sich nicht einmal beklagen konnte, das Schlimmste an der ganzen Wanzenplage.

»Was, zum Teufel, machst du eigentlich den ganzen Tag lang mit dem gottverdammten Köter unter der Dusche?« fragte ihn sein Kumpel Charles Freck einmal, als er während einer dieser Duschprozeduren hereinkam.

Jerry sagte: »Ich muß irgendwie die Aphidien von ihm runterkriegen.« Er schleppte Max aus der Duschkabine und fing an, ihn trockenzurubbeln. Verwirrt schaute Charles Freck zu, wie Jerry Babyöl und Talkumpuder in das Fell des Hundes einmassierte. Überall im Haus türmten sich wild durcheinandergeworfene Sprühdosen mit Insektenspray und Flaschen mit Talkum, Babyöl und Hautpflegemitteln, die meisten davon leer; mittlerweile verbrauchte Jerry schon Dutzende von Flaschen pro Tag.

»Ich seh’ keine Aphidien«, sagte Charles. »Was ist eigentlich ‘ne Aphidie?«

»Kann manchmal tödlich sein«, sagte Jerry. »Genau das ist ‘ne Aphidie – tödlich. Die Biester sind in meinen Haaren und auf meiner Haut und in meiner Lunge, und die gottverdammten Schmerzen werden langsam unerträglich – ich werd’ wohl bald ins Krankenhaus müssen.«

»Wie kommt’s, daß ich sie nicht sehen kann?«

Jerry setzte den Hund ab, den er inzwischen in ein Badetuch eingewickelt hatte, und kniete sich auf dem Zottelteppich hin. »Paß auf, ich zeig’ dir mal eine«, sagte er. Der Teppich war dicht mit Blattläusen bedeckt; überall schnellten welche hoch und hüpften auf und nieder, wobei manche höher sprangen als ihre Artgenossen. Jerry hielt Ausschau nach einem besonders großen Exemplar, weil es den anderen Leuten so schwerfiel, die Biester zu sehen. »Hol mir mal ‘ne Flasche oder ‘n Glas«, sagte er. »Unterm Spülstein. Wir decken das Glas dann mit einem Tuch ab oder schrauben den Deckel drauf, und dann kann ich’s mitnehmen, wenn ich zum Arzt geh’, und der kann sich das Vieh mal genau ansehen.«

Charles Freck brachte ihm ein leeres Mayonnaiseglas. Jerry setzte seine Suche unverdrossen fort, und schließlich entdeckte er eine Blattlaus, die mindestens drei Zentimeter lang war und bestimmt einen halben Meter hoch in die Luft sprang. Er fing sie geschickt ein, trug sie zum Glas, ließ sie vorsichtig hineinfallen und schraubte rasch den Deckel zu. Dann hielt er die Blattlaus triumphierend hoch. »Na, siehst du sie?« erkundigte er sich.

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