Nadine Zacher
Der dunkle Ort
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Inhaltsverzeichnis
Titel Nadine Zacher Der dunkle Ort Dieses ebook wurde erstellt bei
Die Erinnerung
Madonna
Tiffys Hände
Ingrid van Bergen
Die Käfer meiner Mutter
Eisbegonien
Weststraße 1
Es gibt viele Arten zu schweigen
Die fremde Hand
Der dunkle Ort
Impressum neobooks
Ich erinnere mich genau. Es war ein heißer Tag, an dem Gewitter in der Luft lag, an dem das Atmen schwer fiel und der verhangene Himmel viel zu nah zu kommen schien. Es muss einer dieser heißen Tage im August gewesen sein, da bin ich mir sicher, weil ich ein paar Tage vorher Geburtstag gehabt hatte.
Ich hatte neue Schuhe bekommen. Wenn ich die Augen schließe und mich erinnere, sehe ich sie genau vor mir. Es waren braune Lederschuhe, eigentlich viel zu warm für diesen Sommertag, aber ich konnte es nicht abwarten, sie zu tragen; auf keinen Fall noch Wochen, bis der Herbst das Wetter abkühlen würde. Die Schuhe gingen bis über die Knöchel. An der Außenseite auf Höhe des Knöchels befand sich auf jedem der beiden Schuhe die schwarz gelbe Abbildung einer Biene, sehr klein, aber so genau, dass man sogar den Stachel erkennen konnte.
Meine Schuhe wurden staubig, als ich den schmalen Weg durch das kleine Waldstück nahm. Der Boden war trocken, und die Luft war feucht. Auch wenn der Weg nicht besonders lang war, legte sich ein feuchter, klebriger Film auf meine Stirn und meine Arme.
Man sparte sich ungefähr zehn Minuten Weg mit dieser Abkürzung durch den kleinen Wald, ging dafür nicht an der Straße entlang zum Haupteingang, sondern kam hinter dem Haus aus, wo man nur durch den Garten gehen musste und zur Hintertür reingehen konnte. Manchmal war sie verschlossen, oft aber nicht, wenn jemand zuhause war, und schon gar nicht in den heißen Sommermonaten, wenn es sowieso nur ein ständiges Rein und Raus zwischen Garten und Haus war.
Es war Mittagszeit, als ich durch den Garten zum Haus ging, viel zu früh eigentlich. Das Gras und die Blätter hatten ein dunkles, sattes Grün unter diesem tiefen Gewitterhimmel. Alle Fenster im ersten Stock, die zur Gartenseite zeigten, waren weit aufgerissen, und ganz deutlich hörte ich jetzt ein helles Lachen, als ich zu den geöffneten Fenstern nach oben sah.
Ich trat mir den Staub von den Füßen, als ich durch die Hintertür in die Küche ging. Die Tür war nicht abgeschlossen. In der Küche und im Wohnzimmer war jetzt alles ganz still, als würde diese drückende Luft, die durch die geöffneten Fenster rein kam, alle Geräusche verschlucken. Niemand war zu sehen, nichts rührte sich, nur im Wohnzimmer lief der Fernseher ohne Ton und warf ein flackerndes Licht auf den dunklen Teppich.
Jetzt hörte ich kein Lachen mehr, jetzt war es ein Stöhnen, ein Seufzen, das sich den Weg herunter aus dem ersten Stock durch die stickige Luft bis zu mir bahnte. Es hörte sich nicht bedrohlich an, es hörte sich nicht nach Angst oder Schmerzen an, es klang nach etwas Anderem, nach etwas Fremden, das ich noch nicht kannte. Wenn ich mich heute daran erinnere, weiß ich, dass es Lust war, Lust und Begehren, was ich dort hörte.
Langsam stieg ich die hölzerne Treppe in den ersten Stock hinauf. Ich war nicht besonders vorsichtig; ich vermied es nicht einmal, auf die Stufen zu treten, von denen ich wusste, dass dort das alte Holz unter meinen Füßen knarren würde. Im Flur verschluckte der Teppich wie von selbst die Geräusche meiner Schritte. Ich musste mich gar nicht anstrengen, gar nichts tun, ich musste einfach nur eine Treppe hoch und durch einen Flur gehen und durch eine halb geöffnete Tür in ein Zimmer sehen.
Was ich sah, hatte ich noch nie gesehen. Zwei nackte Körper auf dem Bett ineinander verschlungen. Bettdecke und Kleider auf dem Boden verstreut. Ich sah Bewegung, einen Rhythmus, der vom Stöhnen zweier unterschiedlicher Stimmen begleitet wurde. Ich sah einen schlanken, hellen Frauenkörper auf dem Körper einer anderen weniger schlanken Frau, die sich aber nicht weniger bewegte, die mit ihren Fingern in die Haare und in den Rücken der Frau, die sich auf ihr bewegte, griff.
Das muss doch wehtun, das weiß ich noch, dass ich das dachte, dass ich diese feste Geste nicht mit Vergnügen verbinden konnte.
In dem Zimmer hier oben war es noch ein bisschen dunkler als in den Räumen unten, vielleicht hatte sich der Himmel noch weiter zugezogen, vielleicht würde es wirklich gleich gewittern. Doch daran erinnere ich mich nicht, vielleicht war es so, vielleicht blieb aber auch der Regen und das Gewitter aus, und wir merkten einfach nicht, wie die schwüle, stickige, viel zu heiße Luft wieder verschwand.
Ich blieb weiter dort stehen, wo ich stand, rührte mich nicht und konnte den Blick unmöglich abwenden, von dem, was in diesem Bett geschah.
Eine von beiden hatte die Augen nun geschlossen, während die andere mit dem Mund ihren Körper entlang fuhr. Lippen berührten Brüste und Hände, schlossen sich um Finger, berührten Beckenknochen und Oberschenkel, verweilten sehr lange zwischen den Beinen. Auch hier ergab sich wieder eine Bewegung, wie ein Fluss, der in einem bestimmten Rhythmus fließt, und irgendwann in all dieser Bewegung öffnete die Frau die Augen wieder und sah dabei genau in meine Richtung, sah einfach so genau in mein Gesicht. Als würde man nach einem gedankenverlorenen Moment die Augen wieder öffnen und mit seinem Blick zufällig irgendeine Stelle im Zimmer treffen, einen Vorhang oder eine Tasse auf dem Couchtisch.
Meine Mutter sah mich in dem Moment so selbstverständlich an wie irgendetwas anderes im Zimmer, aber dieser Moment ging schnell vorbei. Ich glaube, sie brauchte einfach diesen Moment, um festzustellen, dass das, was sie gerade sah, in keiner Weise zu dem passte, was sie gerade tat.
Aber auch das, was diesem Moment folgte, war nicht hektisch und laut. Ruhig und beherrscht wurde nach Bettdecken und Kleidung gegriffen. Paula, die beste Freundin meiner Mutter, war als erste wieder komplett angezogen; es wurde sich ordnend durch die Haare gefahren, Blusen wurden zugeknöpft, und ich wurde auf mein Zimmer geschickt. Dort saß ich auf dem Bett, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte, und ließ die Beine runterbaumeln. Ich betrachtete meine Schuhe, die ich immer noch anhatte und die auch immer noch ein bisschen staubig waren. Meine Geburtstagsschuhe, ich war elf Jahre alt geworden.
Als ich heute, vierunddreißig Jahre später, den Weg zum gleichen Haus meiner Eltern einschlage, nehme ich keine Abkürzungen mehr, sondern parke, wie alle anderen Gäste auch, vor dem Haus.
Vieles hat sich verändert, auch das Haus, innerlich und äußerlich. Aus dem einstmals grünlichen Anstrich ist irgendwann ein weißer geworden und aus dem weißen im Laufe der Zeit ein dreckig beigefarbener. Wie das Gesicht einer alternden Frau, denke ich, dessen Make-up mit den vergehenden Jahren immer ungenauer und rissiger und gleichzeitig immer notwendiger wird, bis man es irgendwann vielleicht einfach bleiben lässt.
Obwohl es erst Nachmittag ist, dämmert es schon. Das Haus ist hell beleuchtet, und auf dem Hof stehen mindestens schon acht Wagen. Gut, nicht die Erste zu sein, sich nicht in der Gegenwart von Mutter und Frederik verloren fühlen zu müssen. Wo es Mutter doch ohnehin mit jedem Geburtstag immer schwerer fällt, ihre düsteren Launen im Griff zu halten, und die Gäste immer mehr Bemühen aufwenden müssen, ihren lockeren Wohlwollen über diese Stimmung auszubreiten, bis der Abend zu Ende geht. Geschenke will sie schon seit Jahren nicht mehr, ich bin die Einzige, die sich konsequent daran hält, die diesen Wunsch als offensichtliche Erleichterung empfunden hat.
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