Ich habe lange nicht mehr daran gedacht, an diesen Tag, der das Leben von uns allen so sehr veränderte. Das ist eigentlich merkwürdig. Man denkt doch, wenn etwas wirklich Schlimmes passiert, etwas, das einem wirklich den Boden unter den Füßen wegzieht, dass man dann für den Rest seines Lebens jeden Tag daran wird denken müssen. Aber das ist nicht so. Auch das wirklich Schlimme verblasst, schleicht sich nicht mehr jede Stunde und irgendwann auch nicht mehr jeden Tag in die Gedanken. Es ist nicht direkt ein Vergessen, es wird einfach zu etwas, das sich einreiht in eine lange Reihe anderer Ereignisse und Erlebnisse. Etwas, das zwar da ist, das aber den Griff ums alltägliche Bewusstsein gelockert hat, so dass es irgendwann, nach vielen Jahren, besonderer Umstände bedarf, um die Erinnerung wachzurufen. Ein Paar Kinderschuhe vielleicht oder einen Besuch im Elternhaus.
Als ich mit der Bahn von Frank wegfahre, schaffe ich es nicht, einen Umweg zum Haus meiner Eltern zu machen, um mein Auto abzuholen, das immer noch in einer der Nebenstraßen geparkt ist. Die letzte Nacht steckt mir in den Knochen, macht mir die Glieder schwer und lässt die Augen brennen. Mittlerweile ist es Sonntagabend, und es sind nicht mehr all zu viele Stunden, die mich vom alltäglichen Stress, der am Montagfrüh beginnt, trennen. Also beschließe ich, das Auto morgen nach der Arbeit zu holen und mich jetzt so schnell es geht in meine Wohnung zurückzuziehen.
Ich möchte gerne mit meinen Gedanken und Erinnerungen alleine sein und befürchte gleichzeitig, dass mir das nicht unbedingt gut tun wird. Und trotzdem braucht man manchmal genau das. Dann ist es das Richtige, einzutauchen in etwas Trauriges, Schmerzvolles, um dann wieder aufzutauchen und sich davon zu entfernen.
Ich muss nicht lange warten, bis mich die Erinnerung überwältigt, als ich schließlich zuhause bin und mich in der dunklen Wohnung an meinen Schreibtisch setze.
Wenn ich die Vorhänge nicht zugezogen habe, kann ich auf die Straße vor dem Haus blicken und die Sonntagabendheimkehrer beobachten, wie sie Parkplätze suchen oder ihre müden Kinder hinter sich herziehen. Ein ruhiges, müdes Treiben, das mich wie eine Art Hintergrundmusik begleitet, als ich jetzt an jenen Tag vor vierunddreißig Jahren zurückdenke.
Es war einige Wochen nachdem ich einen so unerwarteten Einblick ins Schlafzimmer meiner Eltern bekommen hatte, dort aber nicht meine Eltern, sondern meine Mutter und Paula vorgefunden hatte.
Weder meine Mutter noch Paula hatten in den Tagen und Wochen, die folgten, den Versuch unternommen, mit mir darüber zu reden, und auch meinem Vater war nicht anzumerken, ob er das gleiche Geheimnis teilte wie wir. Es war, als hätte man etwas Verbotenes gesehen, von dem man, je mehr Zeit verging, umso weniger sicher sein konnte, ob es tatsächlich passiert war. Doch das war es. Aber das wurde erst knapp zwei Monate später klar, dass hier etwas passiert war, dessen Ausmaß zunächst wohl niemandem außer meinem Vater bewusst war. Etwas, das nicht rückgängig und nicht wieder gut zu machen war. Etwas, das für meinen Vater alle Grenzen überschritten und gleichzeitig auch für ihn außer Kraft gesetzt hatte. Etwas, wodurch es keine Regeln mehr gab.
Meine Mutter gab später zu, schon eine längere Affäre mit Paula gehabt zu haben, aber auch sie konnte nicht erahnen oder wissen, an welchem Punkt mein Vater begann mitzubekommen, was in seinem Haus vorging, wenn er nicht da war.
Es war spät am Abend, ich lag schon lange im Bett und hatte schon geschlafen, weil ich am nächsten Tag in die Schule musste. Noch im Halbschlaf hörte ich irgendwann laute und aufgeregte Stimmen aus den Räumen im Erdgeschoss kommen.
Ich weiß, dass meine Eltern Paula zu Besuch hatten und irgendeinen Freund meines Vaters, den ich nicht kannte. Mein Vater hatte zum Abendessen eingeladen und sogar selber gekocht. Ich hatte mit den Erwachsenen zusammen zu Abend gegessen, es hatte Fisch gegeben, das weiß ich noch, weil ich es kompliziert und anstrengend fand, die ganze Zeit nach Gräten zu suchen.
Der Freund meines Vaters war fast direkt nach dem Essen gegangen, und ich musste nur wenig später Zähne putzen und ins Bett gehen. An mehr kann ich mich von diesem Abendessen nicht erinnern. Ich weiß nicht mehr, ob es verschwörerische Blicke zwischen Paula und meiner Mutter gab oder zweideutige Andeutungen von meinem Vater, die hätten erkennen lassen können, dass er sehr genau wusste, dass er nicht nur die beste Freundin seiner Frau eingeladen hatte, sondern auch ihre Geliebte.
Die Stimmen wurden immer lauter, während ich noch im Bett lag. Jetzt hörte ich auch deutlich, dass irgendetwas zu Boden fiel und kaputt ging.
Ich wusste, dass es nicht gut war, aufzustehen und hinunter zu gehen, ich wusste, dass ich hier oben in meinem Bett eine sichere Höhle hatte, und dass es falsch war, dieses Versteck zu verlassen. Aber ich konnte nicht anders.
Ich öffnete die Tür meines Kinderzimmers und schlich barfuß und im Schlafanzug leise ein paar Schritte den Flur entlang bis zur ersten Treppenstufe, die nach unten führte. Mit dem Öffnen der Tür waren die Stimmen schlagartig noch lauter geworden, und jetzt hörte ich auch das Weinen meiner Mutter deutlich heraus. Die Stimmen von Paula und meinem Vater schrien gerade laut durcheinander, als ich vorsichtig die ersten Treppenstufen nach unten schlich, bis ich sehen konnte, wie meine Mutter weinend vor dem Fenster stand und sich die Hand vor die Augen hielt.
Ich sehe ganz deutlich, wie mein Vater ausholt und seine rechte Hand Paula mitten ins Gesicht trifft. Paula taumelt zurück, fängt sich aber wieder und hält sich die Hand vor die blutende, aufgeplatzte Lippe. Meine Mutter schreit auf, als sie Paula so sieht, will zu ihr stürzen, aber mein Vater hält sie zurück und stößt sie in die andere Ecke des Zimmers, von Paula weg.
Ich werde nie diesen Blick vergessen, mit dem sich meine Mutter und Paula jetzt ansehen. Ein Blick, der sagt, dass hier gerade alles außer Kontrolle gerät, ein Blick, der darum weiß, dass jetzt alles möglich ist, weil alle Regeln außer Kraft gesetzt sind. Etwas muss geschehen.
Mein Vater dreht sich zum Schreibtisch um, der an der rechten Wand des Wohnzimmers steht, ungefähr dort, wo sich meine Mutter gerade befindet, und dreht Paula damit den Rücken zu.
Als sich Paula jetzt umdreht und zu dem Kaminhaken greift, der hinter ihr an der Wand hängt, tropft ihr ein bisschen Blut von ihrer Lippe auf den Boden, und ich denke, dass diese dunklen Flecken auf dem dunklen Teppich genauso aussehen, als würde ich mit Kakao vor dem Fernseher auf den Boden kleckern. Das weiß ich noch, dass mich das erstaunt hat.
Genau in dem Moment, als mein Vater die Schreibtischschublade öffnet und hineingreift, trifft ihn der Kaminhaken am Hinterkopf, und er fällt sofort seitlich zu Boden. Einen langen Moment geschieht gar nichts, bis Paula den Kaminhaken endlich fallen lässt und sich vorsichtig über meinen Vater beugt. Ich kann von hier aus sehen, dass sein Hinterkopf feucht und strähnig vom Blut ist.
Paula fasst ihn jetzt fest an der Schulter und dreht ihn mit einer einzigen kräftigen Bewegung auf den Rücken. Im gleichen Moment öffnet mein Vater die Augen und sieht Paula an. Wieder scheint die Zeit sich zu verlangsamen, und der Moment, in dem nichts geschieht, außer dass mein Vater Paula ansieht, dehnt sich aus und schließt uns alle in ein Vakuum ein, in dem es keine Luft mehr zum Atmen gibt. Merkwürdig, dass ein einzelner Augenblick das kann, die Zeit anhalten.
Das Vakuum wird von einem Schuss durchbrochen, als mein Vater abdrückt. Paula wird sofort nach hinten geschleudert. Als sie fällt, prallt sie erst gegen den Couchtisch und landet dann seitlich davon auf dem Boden. Die Kugel hat ein Loch in ihre linke Schläfe gerissen, aus dem jetzt erstaunlich schnell sehr viel Blut auf den Teppich fließt. Schnell sammelt sich eine große, triefende Pfütze um ihren Kopf herum, die den Teppich jetzt glänzend und tief schwarz färbt und keinerlei Ähnlichkeit mehr mit Kakaoflecken hat.
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